piwik no script img

Wir sollten einsehen, dass wir unser leben nicht verdient, sondern in dieser Zeit, in diesem Land in erster Linie einfach glück gehabt habenEine hübsche „schmarotzerfreie“ Welt im Hobbykeller

Fremd und befremdlich

Katrin Seddig

In der vorigen Woche machte ein Brief die Runde, erst durch die sozialen Netzwerke und dann durch die Medien. Ein Mann namens Heinz-Günter war sehr zornig auf die Betreiber des Miniaturwunderlandes in Hamburg, weil sie an einem Tag im Januar allen Menschen, die es sich nicht leisten konnten, freien Eintritt gewährt hatten. Heinz-Günter selbst gab an, mit seinen „Freunden der Eisenbahn“ bisher regelmäßig das Wunderland besucht zu haben, was er jetzt aber nicht mehr tun wolle, weil er mit seinem Geld und seiner Arbeit nicht den Eintritt für die „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezahlen wolle.

Die Sache ist mittlerweile überall besprochen worden. Die Leute haben sich zu Recht empört, aber ich bin damit noch nicht durch. Ich muss immer wieder an Heinz-Günter denken, wie er zu Hause in seinem Hobbykeller an seiner Eisenbahnwelt bastelt, kleine Fachwerkhäuser, kleine Kühe auf Wiesen, klitzekleine Kinder beim Spielen. Wie er nach und nach immer mehr Bausätze erwirbt, mit winzigen Pinseln winzige Blümchen auf die Wiese malt, wie er sich etwas schafft, was immer perfekter wird. Eine Welt, nach der er sich sehnt.

Einmal im Jahr vielleicht fährt er mit seinen „Freunden der Eisenbahn“ nach Hamburg, in das große Miniaturwunderland, wo diese kleine Welt in Ausmaßen existiert, in einer Perfektion, von der jeder „Freund der Eisenbahn“ nur heimlich träumen kann. Wie viele Menschen wie Heinz-Günter, investiert er vermutlich einen größeren Teil seines Einkommens in sein Hobby, denn hier in seinem Keller kann er etwas schaffen, was ihn zufrieden macht. Der Ausflug nach Hamburg dann kostet ihn was, er muss vielleicht sogar wo übernachten, muss Geld für ein Abendessen ausgeben, aber das ist es ihm wert.

Und dann erfährt er, dass eines Tages die Türen des Miniaturwunderlandes einfach so geöffnet werden, für jedermann, der es sich nicht leisten kann. Sogar für Flüchtlinge, denn die können es sich ja auch nicht leisten. Das, was ihn selbst doch ein bisschen was gekostet hat, kostet die Flüchtlinge jetzt nichts, da platzt ihm der Kragen, er fühlt sich betrogen.

Und das ist der Punkt. Da sitzt der Stachel im Herzen aller Heinz-Günters dieser Welt, die auch gar nicht wissen wollen, dass es Syrer heißt und nicht Syrier. Sie meinen, sie hätten sich ihr Leben verdient. Und vielleicht haben sie recht? Vielleicht hat ein Heinz-Günter es sich verdient, mit seiner Eisenbahn zu spielen. Vielleicht ist er jeden Tag an seinen Arbeitsplatz gegangen, hat nur selten gefehlt, nie was gestohlen, nie seine Frau betrogen, ist immer anständig gewesen und hat einen sauberen Flur.

Eine ähnliche, recht emotionale, Diskussion habe ich vor Kurzem bei Freunden mitverfolgt. Es ging darum, wie es zu werten sei, wenn jemand in unserer Gesellschaft behauptet, seinen Erfolg hätte er ausschließlich der Qualität seiner Arbeit zu verdanken. („Ich bin so erfolgreich, weil ich so gut bin.“) Ankommende Flüchtlinge, zum Beispiel, haben sich in unserem Land bisher nichts „verdient“, weil sie es auch gar nicht konnten. „Mittellose“ andere Menschen, die den größeren Teil der kostenlos Eingelassenen des Miniaturwunderlandes ausmachten, haben es aus irgendwelchen Gründen auch nicht geschafft, zumindest finanziell erfolgreich zu werden.

Wer soll die Verantwortung übernehmen für diese Ungleichheit: ausschließlich jeder für sich selbst? „An einem Tag jetzt mal kurz wir“, sagen die Betreiber des Wunderlands und öffnen die Tür. „Ich nicht“, sagt Heinz-Günter. Im Grunde sind diese Fragen sehr komplex, und die Welt ist zudem beschissen. Aber wenn wir nicht einsehen wollen, dass wir hier, in dieser Zeit, in diesem Land, neben allem persönlichen Verdienst, in erster Linie einfach Glück gehabt haben, dann sitzen wir neben Heinz-Günter im Hobbykeller und blicken stolz auf unsere hübsche kleine Welt.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen