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Archiv-Artikel

„Wir sind wirklich unabhängig“

Eine russische NGO sendet kritische Radiosendungen über soziale Themen. Chefredakteur Andrej Allakhverdov und Mitarbeiter Charles Maynes über Zensur, die abgesetzte Radio-Soap „Haus 7“ und den Fall Litvinenko

INTERVIEW NOEL RADEMACHER

taz: Herr Maynes, wie berichten die großen russischen Medien über den Fall Litvinenko?

Charles Maynes: Das staatliche Fernsehen hat zunächst gar nicht berichtet, später dann in knapper Form. Viele Zeitungen beten die offizielle Meinung nach und verbreiten Theorien, wonach der im Londoner Exil lebende russische Milliardär Beresowski hinter dem Attentat steckt. Oder dass Litvinenko sich selbst vergiftet hat, um Putin zu schaden. Solche Verschwörungstheorien werden schnell zum Labyrinth. Wenn plötzlich alles möglich erscheint, dann bleibt die Wahrheit auf der Strecke. Eine Ausnahme bildet das private Talkradio Echo Moskwy, das über viele Details der Affäre berichtete. Der Sender gilt nach wie vor gegenüber dem Ausland als ein Aushängeschild für die Pressefreiheit in Russland. Deshalb haben die staatlichen Behörden ihn bislang nicht abgeschaltet. Aber seit der staatliche Energiekonzern Gazprom große Anteile am Sender gekauft hat, nimmt auch hier die Unabhängigkeit ab. Außerdem verfügt er nur über eine begrenzte Reichweite.

Wie beurteilen Sie den Fall Litvinenko?

Maynes: Unheimlich ist die Tatsache, dass erst im Juli ein neues Antiterrorgesetz vom russischen Parlament verabschiedet wurde, das es dem Geheimdienst erlaubt, auch im Ausland sogenannte Extremisten zu töten. Unter diese schwammige Definition fallen auch Personen, die durch kritische Äußerungen den Ruf des Präsidenten schädigen. Und Putin darf eigenständig so eine Tötung anordnen, ohne zuvor andere Gremien zu konsultieren.

Hat die Regierung Putin die Pressefreiheit in Russland faktisch abgeschafft?

Andrej Allakhverdov: Es gibt verschiedene Tabuthemen, über die man als Journalist besser nicht oder zumindest nicht kritisch berichten kann, wenn man seinen Job behalten will. Dazu gehören der Tschetschenienkrieg, der Fall des inhaftierten Unternehmers Michail Chodorkowski sowie der Mord an der Kollegin Anna Politkowskaja und die möglichen Verbindungen zur Regierung. Natürlich ist auch Putins Privatleben ein Tabu – wenn es über die Frage hinausgeht, was für einen Hund er hat.

Haben Sie bei Ihrer Arbeit direkte Zensur zu spüren bekommen?

Allakhverdov: Es gibt ein sehr bezeichnendes Beispiel: Wir haben fast fünfzehn Jahre lang eine ganz unschuldige Soap-Opera für den größten staatlichen Rundfunksender Radio Rossia produziert. Sie hieß „Dom 7, podest 4“ („Haus 7, Eingang 4“) und zeigte das Alltagsleben in einem fiktiven, aber typischen russischen Wohnblock. In der Handlung versuchten wir immer wieder soziale Themen unterzubringen. So hatte eine Familie des Hauses zum Beispiel eine behinderte Tochter mit Downsyndrom – ein Thema, über das in der russischen Öffentlichkeit noch immer geschwiegen wird. Die Serie war sehr beliebt und hatte mehrere Millionen Zuhörer. In einer Folge ist sogar Tony Blair aufgetreten. Im letzten Jahr wurde die Serie abgesetzt, nachdem die Handlung das Thema Tschetschenien gestreift hatte. Für die Behörden war das ein willkommener Anlass, uns vom Sender zu nehmen. In Wirklichkeit geht es darum, im Vorfeld der nächsten Präsidentschaftswahlen 2008 die Medien so umfassend wie möglich zu kontrollieren. Beiträge von unabhängigen Produzenten werden bei „Radio Rossia“ nun grundsätzlich nicht mehr gesendet.

Also herrschen unter Putin mittlerweile sowjetische Verhältnisse?

Allakhverdov: Nein, so kann man das nicht sagen. Seit 1991 hat sich die Radiolandschaft vollkommen verändert. Vorher gab es ausschließlich staatliches Radio, das als Sprachrohr der Partei fungierte. Seit 1991 ist eine Vielzahl von privaten Radiostationen gegründet worden, die unabhängig von staatlichen Zuschüssen arbeiten.

Heißt das, Sie berichten auch unabhängig?

Allakhverdov: Die meisten Sender sind rein kommerziell orientierte Musikkanäle, die sich nicht als Informations-, sondern als Unterhaltungsmedien verstehen. Und wirklich politisch unabhängig ist keiner von ihnen. Schon deshalb, weil Politik und Wirtschaft in Russland untrennbar miteinander verflochten sind. Wer mit einem privaten Radiosender viel Geld verdienen will, ist gezwungen, sich mit den örtlichen Machthabern zu arrangieren. Schon um überhaupt eine Sendefrequenz zu bekommen, muss man eine Loyalitätserklärung abgeben.

Maynes: Es herrscht eine Art von verschleierter Zensur. Jeder Journalist, egal ob in Moskau oder in der Provinz, geht ein hohes Risiko ein, wenn er kritisch berichtet. Wer dabei einem lokalen Machthaber auf die Füße tritt, wird schnell zur Persona non grata und bekommt nie wieder einen Job beim Radio. Das schafft ein Klima des vorauseilenden Gehorsams. Besonders Augenfällig wurde dies während der Geiselnahme in Beslan vor zwei Jahren. Die russischen Medien, egal ob staatlich oder privat, sind ihrem Informationsauftrag damals nicht nachgekommen. Es wurde einfach nicht darüber berichtet.

Was kann eine Nichtregierungsorganisation wie Ihre in dieser Situation tun?

Maynes: Unser Ziel ist es, die zarten Keime unabhängiger Radioberichterstattung, die es in Russland dennoch gibt, zu fördern. Das tun wir auf unterschiedliche Weise: Wir bieten Trainingsseminare für russische Journalisten an, um sie inhaltlich wie technisch mit den internationalen Standards vertraut zu machen. In einer Art „never ending tour“ organisieren wir das ganze Jahr über Radiofestivals in sämtlichen Provinzen Russlands, auf denen herausragende Reportagen und Features vorgestellt und prämiert werden. Und wir produzieren eigene Radiobeiträge, die wir allen interessierten Sendern, ob kommerziell oder staatlich, kostenlos zur Verfügung stellen. Die Tagespolitik ist allerdings nicht unser Schwerpunkt. Wir berichten in erster Linie über soziale Themen, die ansonsten in den russischen Medien zu kurz kommen, wie: Umweltschutz, Zivildienst, ethnische und religiöse Minderheiten, das Leben im Gefängnis, Gewalt in der Familie, Sextourismus oder Aids. Ein besonderes Projekt sind die sogenannten Hörtagebücher: Wir stellen benachteiligten Menschen, die normalerweise in der Öffentlichkeit nicht zu Wort kommen, das nötige Equipment zur Verfügung, um eine Sendung über ihr eigenes Leben zu produzieren. In einem Beitrag berichtet ein Häftling über seinen Alltag in einem sibirischen Gefängnis, in einem anderen erzählt eine behinderte Frau von ihrem Wunsch, ein Kind zu bekommen. Inzwischen haben wir schon mehrere hundert solcher Fünfminutenstücke gesendet.

Wird diese Arbeit von Regierungsseite behindert?

Allakhverdov: Wir haben den Vorteil, dass wir wirklich unabhängig sind – sowohl vom Staat als auch von privaten Sponsoren. Wir finanzieren uns ausschließlich über Spenden von internationalen Stiftungen wie der Soros Foundation, USAid, Tacis usw. Aber die Arbeit wird zunehmend schwerer. Zum einen wächst der Druck der russischen Behörden, denen ein neues NGO-Gesetz die Möglichkeit bietet, ausländischen NGOs den Geldhahn zuzudrehen – unter dem Vorwand, sie würden staatsfeindliche Aktivitäten unterstützen. Auf der anderen Seite lässt das Interesse der privaten Sender an unseren Beiträgen nach, weil den Sponsoren unsere Themen nicht werbewirksam genug sind. Wer will schon sein Produkt anbieten nach einem Beitrag über Drogenabhängige in Smolensk?

Wie sieht Ihre Strategie für die Zukunft aus?

Maynes: Zurzeit suchen wir Geldgeber für den Aufbau von Internet-Radiosendern an den großen Universitäten in Moskau, Jekaterinburg und in anderen Städten. Wir wollen, dass junge Leute das Medium Radio entdecken und sich dort ausprobieren. Uns schwebt die Schaffung eines College-Radios nach angelsächsischem Vorbild vor. Das Internet bietet die Chance, frei von Sendeplätzen und Frequenzen wirklich völlig unabhängige Strukturen aufzubauen. Früher konnten wir zufrieden sein, wenn uns ein Kanal eine Stunde Sendezeit in der Woche zur Verfügung gestellt hat. Jetzt geht es darum, ein Portal zu schaffen, das jedem Interessierten die Möglichkeit bietet, seine eigenen Podcasts, Features und Reportagen zu produzieren und zu senden. Das hätte eine völlig neue Qualität.