: Wir sind nur sieben Prozent
SCHLAGLOCH VON KERSTIN DECKER Über Nietzsche, Barenboim und die Unsterblichkeit der Pantoffeltierchen
■ ist Philosophin und lebt als freie Autorin in Berlin. Letzte Bücher: „Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe“ (Berenberg Verlag) und „Richard Wagner. Mit den Augen seiner Hunde betrachtet“ (Propyläen).
Mitte Juni in Berlin. Kein Auto, nirgends. Unter den Linden, im sonst so jagenden Herzen der Stadt, kein Laut. Aber Tausende von Menschen sind da, liegend, sitzend, stehend – und dabei: stumm. Violinen, kaum hörbar. Es ist der langsame Satz aus Beethovens 7. Sinfonie; Daniel Barenboim scheint mit seiner Staatskapelle herausfinden zu wollen, bis zu welchem Grad man verstummen kann, nur um umso hörbarer zu werden.
Es ist eine große Kommunion, ein Zusammenschluss des Fremden mit dem Fremden neben sich, der für eine kurze Ewigkeit aus Noten zum Nächsten wird. Massen sind potenziell schrecklich, egal ob als revolutionäre oder sonstige Aufwieglermasse. In Massen erwachen Masseninstinkte. Es sei denn, die Masse hört Musik. Plötzlich halten sich Menschen auf, wo sie nur selten anzutreffen sind: bei sich. Jede Musik kann dieses Wunder vollbringen, auch Rockkonzerte oder die verblichene Loveparade, aber so lange so leise werden, das können sie nicht.
Philosoph der Kapellmeister
Friedrich Nietzsche schrieb nach Beethovens Siebenter: „Wenn ich mir aber denke, dass nur einige Hunderte Menschen aus der nächsten Generation das von der Musik haben, was ich von ihr habe, so erwarte ich eine völlig neue Kultur.“ Notiert in Erwartung und Abwehr des anbrechenden Massenzeitalters, in Erwartung und Abwehr von uns.
Die Nietzsche-Worte ziehen noch durch’s Hirn, als sie von Daniel Barenboims Stimme unterbrochen werden: „Ich fordere eine neue Erziehung!“ Was er dann vor diesen Tausenden formuliert, ist diese Nietzsche-Utopie noch einmal – fast einhundertfünfzig Jahre später – ebenso abwegig und plausibel zugleich.
Daniel Barenboim ist der Philosoph unter den Kapellmeistern. Dass es der Musik allein gelingt, Leben und Tod zu balancieren, hat er längst erklärt. Denn Musik bestehe aus beiden, aus Leben und Tod, aus Klang und Stille: „Der Klang ist das Leben, die Stille der Tod. Genau in dieser Wechselwirkung bekommt die Musik eine metaphysische Dimension.“ Denn sie erlaube, noch den Tod zu erleben. Barenboim nennt es ein „übermenschliches“ Vermögen, und ganz sicher sei es eins, das die Natur nicht vorsah.
Was aber sah diese überhaupt vor? Uns etwa? Wir sind nur ein Seufzer der Natur, vermutete ein zur Seelenverfinsterung neigender, schon halb vergessener Dichter, der vor genau 250 Jahren geboren wurde. Und wir – sind wir klüger geworden? Jean Paul glaubte nicht daran, dass Worte wie „Vorsehung“ und „Natur“ im selben Satz Platz haben. Und was heißt hier „Seufzer“? Vielleicht, überlegte Jean Paul weiter, sind wir nicht einmal dieser Seufzer selbst, sondern nur sein Echo? Der Dichter als Evolutionsbiologe.
Tote auf Urlaub
Jean Paul kannte nicht die Statistiken von heute, sie hätten ihn kaum zuversichtlicher gestimmt: 93 Prozent aller Menschen, die es je auf Erden gab, sind tot. Bei den Noch-Lebenden handelt es sich also um eine Splittergruppe, die zu immer auffälligerem Betragen neigt. So als würde sie das Schicksal der 93 Prozent nichts angehen. So als sei ihre Perspektive eine bessere.
Menschen, die hauptberuflich über solche Dinge nachdenken, nennen sich inzwischen auch „Biophilosophen“. Eine erstaunliche Bezeichnung, prätentiös und einfältig zugleich. Ein Biophilosoph ist zuletzt auch nur ein Evolutionsbiologe, wie Jean Paul. Oder Daniel Barenboim.
Aber ihre Denkwege sind doch ein wenig verschieden. Der Biophilosoph Eckart Voland etwa lässt sich von den 93 Prozent gar nicht beeindrucken. Und um die Unsterblichkeit zu denken, hat er keine Musik nötig, den Glauben schon gar nicht, denn im Unterschied zum Alltagsverstand hält er den Tod keineswegs für selbstverständlich: Jedes Pantoffeltierchen, vollkommen taub, vollkommen gottlos, absolut beethovenresistent, sei potenziell unsterblich.
Ein kürzlich entdeckter Schwamm in der Antarktis lebe bereits seit 10.000 Jahren. Und wenn niemand ihn zerstört, lebt er noch die nächsten 10.000 Jahre. Nur wir sind wie alle höher organisierten Organismen auf systematischen Selbstmord programmiert. Die Evolution hat es bewiesen: Bei der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung mit dem Tod des Einzelnen als Preis kommt mehr heraus als bei der Unsterblichkeit des Pantoffeltierchens. Darum ist mit spätestens 120 Jahren alles vorbei.
Die Würde des Menschen ist demnach immer schon angetastet, gewissermaßen von Geburt an, von der Natur selbst. Als ich das Biophilosophen-Interview las, habe ich aufgemerkt. Voland heißt auch der Teufel in Michail Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“. Ein Teufel, funktionell betrachtet, ist nichts anderes als ein Fachmann für unbekömmliche Nachrichten. Wahrscheinlich würde sich heute kein Teufel mehr Teufel nennen, sondern gleich Biophilosoph. Es sei denn, er wird Jurist beim Patentamt.
Angelina und der Hirntumor
Man kann auf alles ein Patent anmelden. Auch auf die menschliche DNA. Das Unternehmen „Myriad“ etwa besitzt Patente auf die Gene BRCA1 und BRCA2. Das sind genau jene Gene, vor deren möglichem Defekt Angelina Jolie so große Angst hatte, dass sie sich beide Brüste abnehmen ließ. Das ist gewissermaßen der chirurgische Weg zur Unsterblichkeit: Entfernung der Fehlerquellen, aller Risikoteile. Hoffentlich bekommt Angelina Jolie niemals Angst vor einem Hirntumor.
Aber bleiben wir bei BRCA1 und BRCA2. Mitte Juni, als Barenboim Unter den Linden Beethoven spielte, hat das Oberste Gericht der USA das Patent des Unternehmens „Myriad“ zur künstlichen Reproduktion der entsprechenden DNA-Abschnitte bestätigt. „Kein Patent auf Leben!“, fordert Greenpeace schon lange im Namen der Würde des Lebens. Aber ist das ein patentrechtlich haltbarer Begriff? Für das Patentrecht sind wir nichts weiter als ein „Naturprodukt“. Wie das Pantoffeltierchen. Oder der antarktische Seniorschwamm. Aber etwas unterscheidet uns doch von ihnen. Als „Seufzer“ gehen die nicht durch, auch nicht als dessen Echo. Das ist die Präzision der Dichter. Und die Beethovens, 7. Sinfonie, zweiter Satz.