: Wir sind bei euch!Anna Adam
Juden in Deutschland stellen sich an die Seite liberaler Muslime
Berlin ist eine große Stadt. Menschen aus aller Welt leben hier in einträchtiger Ignoranz nebeneinander. Muslime, Hindus, Juden, Buddhisten, Christen, Atheisten, Ossis, Wessis … alle übersehen sich gegenseitig so gut es eben geht. Nach außen sieht das toll aus! Und wenn wir dann doch mal genauer hinsehen?
Da erzählt in Wedding ein deutscher Christ (?) seinem französisch-ungarischen Nachbarn (Jude), dass er sein Kind jetzt an der jüdischen Grundschule anmeldet, weil es dort keine Muslime gibt. Da sagt mir (Jüdin) ein Algerier (war mal Christ, ist seit einiger Zeit Muslim mit französischem Pass), dass wir unseren deutschen Kollegen (einen Katholik, der protestantische Gottesdienste bevorzugt) wohl nur mit Mühe davon abhalten können, in unserer Gegenwart Schweinefleisch zu essen. Unser katholisch-protestantisch-deutscher Kollege ist Vegetarier. Aber wie kommt er dann mit dem Blut Christi zurecht? Gestern im Supermarkt stand vor mir an der Kasse eine unübersehbar (?) muslimische Familie und legte ein gutes Kilo Hackfleisch halb und halb aufs Band. Sind sie überzeugte Vertreter deutscher Leitkultur? Ich verdrängte diese interkulturelle Entgleisung und ging nach Hause, um das Abendessen vorzubereiten. Die Küche ist ja wohl der Ort, der mir als Jüdin zusteht, oder? Das jedenfalls behaupten zahlreiche jüdische Männer, die ihren Frauen das Lesen der Thora verbieten. Über dieses Thema beklage ich mich am liebsten bei meiner ägyptischen (koptisch-christlichen) Nachbarin, deren (muslimische) Freundinnen mit Stolz das Kopftuch tragen müssen (oder wollen?).
Bin ich aber froh, dass muslimische Demokraten trotz all dieser Klammern im Kopf alle anderen Berliner aufgerufen haben, an der Gegendemo zur Al-Quds-Kundgebung teilzunehmen. Dadurch wurde mir klar, dass ich auch weiterhin ohne kugelsichere Weste zu Pessach meine Lammkeule beim religiösen muslimischen Schlachter in Kreuzberg kaufen kann.
Anna Adam ist Künstlerin und lebt in Berlin
Dani Levy
Gibt es ein Leben nach dem Tod? Werde ich Herrn Atta treffen, drüben im Paradies? Falls ich es dann dahin schaffen werde? Auch ohne meine Feinde mit Passagierflugzeugen in die Luft gesprengt zu haben. Also nur mit meinen Filmen, sozusagen. Wie wird es sein, wenn Atta und ich uns begegnen werden? „Inschallah, Mohammed Atta“, werde ich sagen, „Inschallah, wer sind Sie?“ „Ich bin Dani Levi, ich war ein jüdischer Filmemacher in Berlin.“ An dieser Stelle wird er mich umarmen und mich um Verzeihung bitten. Dafür, dass er meine Filme nicht gesehen hat. Er wird zu weinen beginnen, verzweifelt darüber, wie einsam es ist, hier in G’ttes Paradies. Allein umgeben von Terroristen. Dann werde ich ihn trösten mit der Hoffnung, dass es vielleicht auch George W. Bush hierher schaffen wird. Mit seiner Politik.
Dani Levy ist Filmemacher und lebt in Berlin
Sara Nachama
Als 1998 ein Politiker feststellte, es würde Jahrzehnte dauern, um einige Quartiere in Berlin wieder zu germanisieren, ging ein Aufschrei des Entsetzens von der jüdischen Gemeinde durch das Land. Tatsächlich ging es aber nicht um ein Quartier schwarz gewandeter orthodoxer Juden in Berlin, sondern um eines jener bunten mediterran islamischen Quartiere Berlins.
Warum kam der Aufschrei aus der jüdischen Gemeinde? Weil man sich dort noch sehr gut daran erinnern kann, wie die Mechanik der Ausgrenzung schon vor 1933 begonnen hatte: Erst wird eine Gruppe diskriminiert, dann wird die Diskriminierung verallgemeinert, und schon sind die bürgerlichen Freiheiten für alle dahin. Diese Wahrheit gilt jedoch nicht nur aus der Richtung der Mehrheitsgesellschaft Minderheiten gegenüber, sondern auch aus den Minderheiten heraus – sowohl gegenüber der Mehrheitsgesellschaft als auch gegenüber anderen Minderheiten. Wer von Liberalität profitieren will, muss sie auch selbst praktizieren. Deshalb tut es allen gut, dass liberale Muslime ihre Stimme gegenüber Antisemitismus und Intoleranz anderen Religionen gegenüber artikulieren.
Sara Nachama ist Direktorin des Touro-College Berlin
Sharon Brauner
Moscheen, Synagogen und Kirchen brennen im 21. Jahrhundert in Europa! Es spitzt sich etwas zu, und es ist eine Schande. Ich hatte sechs Jahre einen türkischen Freund, der immer noch mein bester Freund ist. Ich entstamme einer jüdischen Familie, er einer islamischen. Wir sind beide im christlichen Berlin aufgewachsen. Wir hatten nie Probleme. Wir hatten aber auch liebende Eltern, eine Schulbildung, multikulturellen Umgang und Meinungsfreiheit. Schon in der Schule haben wir gelernt: Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. Und in Berlin herrscht ohnehin das Gesetz: Leben und Leben lassen.
Wir Menschen aller Religionen haben uns auf den Begriff Gott geeinigt. Er ist für alle der gleiche und alle Religionen sind im Kern gleich: Liebe! In Wirklichkeit haben Glaubenskriege nichts mit Gott zu tun. Wir sollten uns das nicht einreden und in keinen Hass mit reinziehen lassen. Im Namen Gottes zu töten ist der größte Widerspruch, den es geben kann. Europa kennt Hexenjagden und Völkermorde aus der Vergangenheit. Wir haben daraus gelernt. Und liegt es nicht an uns Menschen, die mit Sicherheit noch in der Mehrzahl sind, dieses Wissen weiterzugeben, um unsere kostbare Freiheit zu bewahren?
Sharon Brauner ist Sängerin und lebt in Berlin
Avitall Gerstetter
Der Regisseur Theo van Gogh ist tot. Ermordet von einem radikalen Muslim, der offenbar seit vielen Jahren in den Niederlanden lebt. Dieser Mord und die Welle der vielen Anschläge gegen Moscheen zeigen auf grausame Weise das Resultat einer fehlgeschlagenen Integrationspolitik, nicht nur bei unseren Nachbarn.
Der liberale Umgang mit dem Fremdartigen, der auch immer etwas von Gleichgültigkeit beinhaltet, schafft Vorbehalte auf beiden Seiten. Auch ich weiß – nicht zuletzt durch meine Arbeit im interkonfessionellen Dialog –, dass das gegenseitige Interesse, vor allem das der Muslime, stärker ausgeprägt sein müsste. Das Verbindende suchen, ohne die eigene Identität zu verleugnen, könnte ein Weg sein, das zu leben, von dem alle reden: Integration.
Avitall Gerstetter ist Kantorin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
Micha Brumlik
Im Koran steht in Vers 256 der 2. Sure: „Es gibt keinen Zwang in der Religion.“ Diese Aussage steht völlig im Einklang mit dem Grundgesetz. Der Glaube gibt uns Empfehlungen, keine verbindlichen Weisungen – und wenn, dann sind sie verpflichtend nur für jene, die sich zu ihrem Glauben bekennen.
Wenn am Sonntag nun tausende Muslime gegen den Terror auf die Straße gehen, sollten auch Nichtmuslime daran teilnehmen, nämlich die, für die Toleranz auch Akzeptanz heißt (auch wenn ich selbst leider nicht mitmarschieren kann).
Was der Mord an Theo van Gogh für die Niederlande gezeigt hat, gilt auch für die Bundesrepublik: Wir haben Jahrzehnte lang sträflicherweise nicht wahrgenommen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Das muss jetzt endlich nachgeholt werden. Die Integration der Muslime in die europäischen Staaten ist eine Schicksalsfrage der Europäischen Union.
Micha Brumlik ist Pädagogikprofessor und Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt am Main
Sharon Adler
Gegen Gewalt, gegen Rassismus, Antisemitismus und Fundamentalismus jeder Art!
Solange das Recht auf freie Meinungsäußerung – auch wenn sie provoziert – unterdrückt, getreten und beschossen wird, müssen wir es verteidigen und dürfen nicht verstummen. Wenn ein Mensch wie der Regisseur, Publizist und oft provozierende Islamkritiker Theo van Gogh das Bild der Frau im Islam mit filmischen Mitteln realistisch darstellt und dafür mit dem Tode bestraft wird, dürfen wir nicht wegschauen. Gegen Fanatismus hilft nur eine Koalition aller, die eine Welt ohne Blutvergießen wollen, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht und Religion.
Eine Woche nach dem Mord wurde ein Anschlag auf eine islamische Schule verübt. Lasst die Kinder aus diesem blutigen Spiel und lehrt sie stattdessen, dass Religionen friedlich nebeneinander bestehen können. Es gibt nur einen Gott – die Menschen haben nur unterschiedliche Namen für ihn gefunden.
Sharon Adler ist Herausgeberin des Online-Frauen-Magazins AVIVA-Berlin.de
Nicola Galliner
Dass jetzt auch in Deutschland von muslimischer Seite zu einer Kundgebung gegen den Terror aufgerufen wird, ist begrüßenswert. Ich hoffe nur, dass tatsächlich die „große Mehrheit der Muslime“ dahinter steht, von der in dem Aufruf die Rede ist.
Und obwohl man sich ja schon seit längerem wünscht, dass gerade von dieser Seite Stellung gegen die „Islamisten“ und ihre Terrorakte bezogen wird, ist der Zeitpunkt gut gewählt. Denn gerade die Vorfälle in Holland haben uns doch die Augen geöffnet. Wer sagt uns denn, dass so etwas nicht auch bei uns passieren kann? Die Diskussion darüber, was auch Muslime gegen den Terror unternehmen können, muss jedenfalls weitergehen und sollte sich nicht in diesem Einzelfall erschöpfen
Nicola Galliner ist Leiterin der Jüdischen Volkshochschule in Berlin
Walter Rothschild
Alle Menschen spüren Schmerzen gleich. Alle fühlen Angst. Wir müssen lernen, zu unterscheiden zwischen gerechtfertigten und Fantasie-Ängsten. Menschen zu Stereotypen zu machen, ist immer eine gute Ausrede, deren Menschlichkeit zu ignorieren.
Am letzten Schabbat sind zwei muslimische Frauen zum jüdischen Schabbatgottesdienst in Pinneberg erschienen – einen Gottesdienst, der aufgrund von Mängeln in den eigenen Räumlichkeiten in einem evangelischen Gemeindezentrum stattfinden musste. Und am Sonntag habe ich an einer Berliner Kriegsgräberstätte zusammen mit Muslimen sowie Vertretern von Hindus und Sikhs an einer Gedenkfeier für die Gefallenen teilgenommen. Beispiele, die zeigen, dass ein Zusammenleben möglich ist: Und so muss es auch sein. Es gibt sehr wenige Juden in Deutschland, und mehrere hunderttausend Muslime, und doch haben wir vieles gemeinsam.
In allen Religionen gibt es Idioten, die Leute, die denken, sie haben schon alle Antworten, sie haben keine Fragen mehr. (Ich schließe in diese Definition die säkularen Ideologien durchaus mit ein.) Gegen Idioten mit Antworten müssen alle Liberalen mit Fragen zusammenhalten: Damit wir diese heikle Intoleranz mit LIEBEralität beruhigen können. Schalom.
Walter Rothschild ist Landesrabbiner von Schleswig-Holstein