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Wir können alles außer impfen

Nirgendwo in Deutschland ist die Impfquote niedriger als in Baden-Württemberg. Will man verstehen, wo die schwäbische Impfparanoia ihren Ursprung hat, sollte man vor allem die Anthro­po­sophie Rudolf Steiners in den Blick nehmen.

Selfiefreund trifft Impffeind – ­Stuttgarter „Querdenken“-Demo am 9. Mai. Foto: Jens Volle

Von Dietrich Krauß↓

Als im Frühjahr ausgerechnet im Corona-Hotspot Baden-Württemberg der Pandemie-Protest erblühte und sich in Stuttgart zigtausende zu „Querdenken“-Demos versammelten, war die Ratlosigkeit groß: Dabei ist es kein Zufall, dass ausgerechnet die Heimat der Kehrwoche zur Hauptstadt der Hygienedemos wurde, einte doch das bunte Protest-Publikum unübersehbar ein Thema: Die Allergie gegen das Impfen. Dass diese Angst besonders im Süd­westen auf fruchtbaren Boden fällt, ist kein Wunder, wird sie hier doch seit langem biologisch dynamisch gedüngt. Die Panik vor dem Pieks ist so alt wie die Geschichte des Impfens und die Parallelen zu dem Protest gegen den Pockenschutz vor 150 Jahren frappierend.

Die schrille Impfkritik Ken Jebsens, der bei einer der „Querdenken“-Aufmärsche in Stuttgart als Stargast sprach, gleicht beispielsweise bis in die Wortwahl dem Ahnherrn der deutschen Impfkritik, Hugo Wegener. Der Herausgeber der Zeitschrift „Die Impffrage“ warnte vor mehr als 100 Jahren davor, Kindern gegen den Willen der Eltern „Gift in die Blutbahn“ zu jagen.

In Stuttgart trifft sich die Elite der Impfkritik

An diese Tradition wird in Stuttgart bereits seit längerer Zeit wieder angeknüpft. Nirgendwo in Deutschland ist die Impfquote niedriger als in Baden-Württemberg. Besonders bei der Masernimpfung liegt das Land mit 89,7 Prozent deutlich unter der von der WHO empfohlenen Rate von 95 Prozent.

Die weitaus stärkste Fraktion der Impfgegner bildete im 19. Jahrhundert die Lebensreformbewegung, die unter dem Motto „Zurück zur Natur“ einen radikalen Bruch mit der Lebensweise der autoritären wilhelminischen Industriegesellschaft propagierte. Die an Verstädterung, Armutsmigration und Massenkultur „erkrankte“ Gesellschaft sollte an und mit der Natur geheilt werden. Die modernen Arz­neien heißen Luft, Sonne, Wasser und giftfreie Diät, schrieb Heinrich Molenaar, der Präsident des Impfgegner-Bundes.

Doch die Natur taugt nur dann als Richtschnur für ein gesundes und richtiges Leben, wenn sie radikal romantisiert wird. Dass sie in Wahrheit ihre menschlichen Mitbewohner seit jeher mitleidlos mit tödlichen Krankheiten überzieht, müssen die zivilisationsmüden Lebensreformer konsequent ausblenden. Nix alternativer Streichelzoo. Survival of the fittest.

Nicht umsonst inspirierten die medizinischen Ideen der Lebensreformer bis in die Gegenwart immer wieder nicht nur alternative „grüne“ Strömungen, sondern erfreuten sich auch bei den Nationalsozialisten großer Beliebtheit. Ihre Naturverherrlichung bot hervorragende Anknüpfungspunkte für die NS-Rassentheorie und ihre These von natürlicher Auslese. Kneippianer, Homöopathen, Anthroposophen und andere Naturheiler wurden zeitweilig in der Arbeitsgemeinschaft Neue deutsche Heilkunde zusammengeführt mit dem Ziel einer neuen Synthese zwischen Schulmedizin und Natur­heil­kunde.

Oft brechen Kinderkrank­heiten an Waldorfschulen aus

Heute sind die Grünen die natürliche Heimat aller Anhänger alternativer Heilmethoden, was politischen Gegnern immer wieder Anlass für Sticheleien gibt, vor allem angesichts der niedrigen Impfquote im grün regierten Südwesten. Doch selten gerät dabei der „elephant in the room“ in den Focus: die einflussreiche Anthroposophie. Die okkulte Lehre Rudolf Steiners ist direkt aus der Bewegung der Lebensreformer hervorgegangen und verspricht bis heute ihrer Kundschaft eine andere, irgendwie natürlichere Medizin, Landwirtschaft und Schule.

Seit vor 100 Jahren auf der Stuttgarter Uhlandshöhe die erste Waldorf­schule gegründet wurde, gilt Stuttgart als so etwas wie die Hauptstadt der eurythmischen Bewegung. Hier ging das Bürgertum eine anhaltende Liaison mit Steiners Esoterik ein. Die „Waldis“ sind hier vor allem in den akademischen grünen Milieus bestens verankert und prägen ein spezifisches Stuttgarter Klima alternativer Spießbürgerlichkeit. Dieses harmlose Image verstellt allerdings den Blick auf die Abgründe von Steiners Okkultismus, der in der Medizin ein zentrales Anwendungsgebiet hat und einen Gutteil dazu beiträgt, dass die Impfquoten in Baden-Württemberg so niedrig sind.

Dabei grenzen sich die anthroposophischen Oberärzte in den offiziellen Stellungnahmen der Fachgesellschaft klar ab von ordinären Impfgegnern. Die Segnungen des modernen Infektionsschutzes werden gewürdigt, selbst die lange bekämpfte gesetzliche Pflicht, Kinder vor Besuch von Schulen und Kita gegen die Masern zu impfen, wird von führenden anthroposophischen Medizinern wie Georg Soldner akzeptiert.

Doch das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit: Gleichzeitig unterstützt der von dem anthroposophischen Kinderarzt Michael Friedl geführte Verein „Ärzte für individuelle Impfentscheidung“ aktuell die Verfassungsklage gegen die Masernimpfpflicht. „Wir sind freie Bürger, die frei entscheiden, ob sie sich impfen lassen oder nicht“, sagte auch der anthroposophische Vordenker Christoph Hueck auf der Stuttgarter „Querdenken“-Demo im Mai. „Wir haben die Gehirnwäsche und das diktatorische Regierungshandeln satt“, polterte der Mitbegründer der Akanthos-Akademie gegen die Corona-Maßnahmen – und erklärte, einem guten Immunsystem könne das Corona-Virus nichts anhaben.

Da geht die okkulte Luzi ab

Hueck bildet Lehrer für die Waldorfschule aus. Die hat auch der Rednerkollege und Mit-„Querdenker“ Ken Jebsen besucht. Immer wieder war er dort in den letzten Jahren auch als Vortragsredner zu Gast. Laut einer Untersuchung des Landesgesundheitsamtes Baden-Württemberg waren an Waldorfschulen stolze 30 Prozent der Kinder nicht geimpft. An staatlichen Schulen sind es gerade mal fünf Prozent. Auffallend selten wird bei den Masernausbrüchen erwähnt, dass die hochansteckende und gefährliche Kinderkrankheit (130.000 Tote jährlich) oft an den anthroposophischen Steiner-Schulen aus­bricht. Dass dahinter die „ergebnisoffene, neutrale und individuelle“ Beratung durch anthroposophische Ärzte steckt, liegt auf der Hand. Anthropo­sophische Medizin verursache Masern-Ausbrüche, konstatierte kurz und bündig schon vor zehn Jahren in der „Medizinischen Wochenzeitschrift“ Professor Edzard Ernst, der erste Lehrstuhlinhaber für Alternativmedizin.

Warum die Steiner-Gemeinde so verbissen um die Ansteckungsfreiheit und gegen Impfzwang kämpft, kann nur verstehen, wer in die Abgründe des Steiner’schen Okkultismus hinabsteigt. Den hält man der Öffentlichkeit nicht allzu offensiv vor die Nase, schließlich hängen auch die Waldorfschulen am staatlichen Tropf. Allzu obskure Inhalte könnten die Steuer­zahler verunsichern. Deshalb hat man sich eine Art anthroposophischen Doppel­sprech angewöhnt. In den offiziellen Stellungnahmen für die Öffentlichkeit gibt man sich gern einen seriösen wissenschaftlichen Anstrich und verwässert die Steiner-Esoterik zu harmlosen Allerweltsweisheiten. In den Original-Schriften und Zeitschriften geht dagegen die okkulte Luzi ab. Im Fall der Masern heißt es offi­ziell, wer Kinderkrankheiten durch­stehe statt sie zu unterdrücken, stärke sein Immunsystem und fördere die kindliche Entwicklung.

Dahinter verbirgt sich jedoch eine viel abgründigere These Steiners, die mit herkömmlicher Medizin nicht das Geringste zu tun hat. Danach inkarniert sich das Ich des Menschen im Lauf der Zeit immer wieder in neue Leiber. Deshalb müsse man es dem Kind in den ersten Lebens­jahren ermöglichen, sich durch fieberhafte Masern­erkran­kung quasi in seinem Leib einzurichten und diesen zu indi­vi­dua­lisieren. Dass das auch genau so gemeint ist, erklärt in der Februar-Ausgabe der waldorfpädagogischen Zeitschrift „Erziehungskunst“ die anthroposophische Ärztin Daphné von Boch: Ein Neugeborenes bestehe nämlich noch ganz aus mütterlichen Eiweiß und drohe deshalb von der Mutter „überwältigt“ und „fremd gesteuert“ zu werden. Erst das Masern-Fieber zerstöre das mütterliche und mache so Platz für das eigene Eiweiß, das dem indivi­duel­len geistigen Wesen entspreche.

Die Fachgesellsellschaft für Kindermedizin warnt auf Anfrage davor, solche steilen Thesen überhaupt zum Thema von Berichterstattung zu machen. Sie stehen dafür sicher auf dem Lehrplan der anthro­po­sophischen Ärzteausbildung, wo Daphne von Boch angehenden Medi­zi­nerIn­nen beibringt, wie man mit Planetenmetallen heilt. Man kann dort auch „die sieben Chakren und die Seelenprozesse“ studieren oder Organeinreibe-Kurse auf Elba belegen. Normale Ärzte können sich auf diese Weise zum anthro­posophischen Facharzt weiterbilden – eine gesetzlich anerkannte Medizin.

Anthroposophen und Waldorfbewegung: in Stuttgarts akademisch-grünen Milieus bestens verankert. Foto: Joachim E. Röttgers

Hin und her gerissen zwischen Geset­zes­treue und Steiner-Gehorsam zeigen sich die führenden anthroposophischen Mediziner durchaus flexibel: Es müssten ja nicht unbedingt die Masern sein, kann man in aktuellen Stellungnahmen nachlesen. Eine Lungenentzündung tue es auch. Hauptsache, das Kind fiebert. Und dabei geht es nicht nur um das Immunsystem.Krankheiten haben im ewigen Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt in der anthro­po­sophischen Medizin einen erzieherischen Sinn. Sie sind karmischer Ausgleich für Fehlverhalten im letzten Leben: Zu starkes Selbstgefühl kann nach der Wiedergeburt zu Cholera führen, sinnliche Ausschweifung zur Lungenentzündung, wer im vorherigen Leben zu selten musiziert hat, leidet jetzt unter Asthma, wer zu wenig Interesse an Sternen und Himmelsvorgängen gezeigt hat, wird mit Bindegewebsschwäche gestraft. Keine Comedy, sondern Anthroposophie.

Corona-Virus – ein Angriff des Teufels

Das Lachen vergeht einem allerdings, wenn man nachliest, mit welch okkult-rassistischem Irrsinn der selbsternannte Hellseher den Ursprung von Infektionskrankheiten „erklärt“. Wie alle Organismen, die sich in anderen Organismen ansiedeln, sind Bazillen und Viren teuflischer Natur – oder „genauer gesagt“ geistige Dämonen und Verwesungsprodukte untergegangener minderwertiger Völker wie zum Beispiel der „Mongolenrasse“. Die trug die Bazillen in ihrem von Fäulnis gezeichneten Astralleib und infizierte bei den großen Völkerwanderungen unter anderem die fortgeschrittenen Rassen von Germanen.

Dieser Seuchen-Irrsinn Steiners wird von Anthroposophen anlässlich der Corona-Krise neu aufgelegt: Das Corona-Virus wird in einem Youtube-Vortrag als spiritueller Angriff des Teufels auf die Menschheit gedeutet, der aktuell seine Inkarnation vorbereite. Mit Geld und Macht, Furcht und Lüge mache er die Menschen erst empfänglich für das Virus, mit dem ein starkes Immunsystem locker fertig werde. „Querdenker“ Christoph Hueck weist in einem Corona-Aufsatz darauf hin, dass Infektionskrankheiten laut Steiner als Botschaft der geistigen Welt zu betrachten sind: Der Mensch suche sie gezielt auf, ja benötigt sie förmlich, um in der Auseinandersetzung und Überwindung mit seinem Schicksal zu wachsen. Wer verderbten Neigungen wie Egoismus gefrönt hat, infiziert sich leichter.

Impfung dagegen könne taub machen für die karmischen Botschaften. Wer sich auf diese Weise vor Krankheiten schützt, der erfreut sich vielleicht seiner Gesundheit, aber ihm droht nach Steiner der Reinkarnations-Stillstand. Deshalb suchen den durchgeimpften Menschen zwar nicht die Pocken, aber seelische Verödung heim. Diesen Impfschaden kann man nur durch den Besuch einer Waldorfschule ausgleichen. Man muss Krankheit übrigens gar nicht unbedingt besiegen, um von ihr zu profitieren. Sollte man beispielswweise früh dahingerafft werden, entfaltet die Krankheitserfahrung ihre segenreiche Wirkung eben im Dasein nach dem Tod und befördert uns im nächsten Leben auf die Überholspur.

Die Vorteile von Krankheit, Leid und Tod werden zuweilen in so leuchtenden Farben geschildert, dass Steiner und Hueck sich zwischendurch gezwungen sehen, dem Leser zu versichern, dass grundsätzlich gegen Heilen und Helfen nichts einzuwenden sei.

Bislang verschließt man im Südwesten vor den esoterischen Abgründen der Steiner’schen Lehre fest die Augen. Solange man offenen Antisemitismus und Rassismus vermeidet, sind die Anthro­po­sophen wohlgelitten. Die grüne Landesspitze machte zum 100. Geburtstag der Waldorfschule brav ihre Aufwartung. Schließlich handelt es sich um einen schwäbischen Exportschlager. Dass ein ziemlich direkter Weg von den harmlosen Pastellfarben der Waldorfschule zur gefährlich-finsteren Impfparanoia der „Querdenken“-Demos führt, sollte endlich auch in Stuttgart Gegenstand einer kritischen Debatte werden.

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