Wir begehen das Lutherjahr auf der deutschen Autobahn mit der Ökobilanz im Sinn: Ablass
Wir retten die WeltVonHannes Koch
Wir fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn. Und dann: Blitz! Verdammt. Richtung Wittenberg, der Stadt Martin Luthers, habe ich das Tempolimit und den Fotoapparat am Straßenrand übersehen. Wie viel war ich zu schnell, 20, 30 Stundenkilometer? Das kann teuer werden.
Diese Strafe wird kommen, per Gesetz, unbestechlich. Das unterscheidet die Sanktion vom Zahlungsmechanismus des Ablasses, gegen den der Reformator ab 1517 zu Felde zog. Jetzt, 500 Jahre später, im Jubiläumsjahr, erinnern wir uns daran, dass die Gläubigen damals von der katholischen Kirche genötigt wurden, Ablassbriefe zu kaufen, mitunter im Wert eines Monatsverdienstes. Juristisch strafbar gemacht hatten sie sich nicht. Als notorische Sünder drückte sie jedoch ihr Gewissen. Sie hofften, mittels der Zahlung dem Fegefeuer nach dem Tod zu entgehen. Ablass – so etwas gibt es heute nicht mehr?
Aber natürlich. Nehmen wir die Internet-Suchmaschine Ecosia. Meine Tochter hat sie mir vor Jahren auf meinem heimischen Laptop als Startseite eingerichtet. Schalte ich die Kiste an, jubelt die Firma: „6.161.561 mit Ecosia gepflanzte Bäume.“ Ein paar Sekunden später sind es schon 6.161.562. Ein Teil der Werbeeinnahmen, die die Seite erwirtschaftet, fließt in Aufforstungsprojekte. Klickst du, bist du öko. Kannst du Autofahren und rumpesten, so weit du willst.
Oder Spenden: Rotes Kreuz, ProAsyl, Erdbebenhilfe für Nepal. Ähnliches gilt für den Kauf von T-Shirts, Smartphones oder Schokolade aus fairer Produktion. Einmal bewusst konsumiert, und der Rest des Monats läuft wie geschmiert. Ablass auf der Höhe der Zeit nennt man auch „kompensieren“.
„Hast du schon kompensiert?“, fragt mich meine Tochter manchmal. Nein, ich habe noch nie kompensiert. Aber ich weiß, ich sollte es tun. Geht so: Nach dem Kauf des Flugtickets von Berlin nach Kigali in Ruanda besucht man beispielsweise die Webseite von Atmosfair, um sich die verursachte Klimabelastung ausrechnen zu lassen. In diesem Fall sind es 3.700 Kilogramm Kohlendioxid. Durch eine Überweisung von 86 Euro auf das Konto von Atmosfair kann man die Sünde nun neutralisieren. Sie ist dann einfach weg. Das bestätigt gerne die nächste Umweltorganisation mit ihrem Klimarechner. Die persönliche Jahresbilanz ohne Kompensation: tiefrot. Mit Ökogebühr: grün. Probieren Sie es aus. Es ist ein Wunder.
Allerdings wohnt diesem modernen Mirakel im Vergleich zu Luthers Zeiten doch ein gewisser Fortschritt inne.
Mag der Sinn solcher Zahlungen psychologisch auch darin bestehen, die eigenen fortgesetzten Ökosünden erträglich erscheinen zu lassen, so sind wir beim tatsächlichen Effekt weiter als damals. Immerhin existiert nun in vielen Fällen ein objektiver Zusammenhang zwischen Motiv und Wirkung: Die Kompensationsfirmen finanzieren tatsächlich Klimaschutz. An diese Nachweispflicht war die katholische Kirche einst nicht gebunden.
Mittlerweile liegt die Fahrt nach Wittenberg einige Monate zurück. Aber noch immer ist kein Zahlungsbescheid der Polizei eingetroffen. Mitunter beschleicht mich ein schlechtes Gewissen. Weiß der Staat um mein Fehlverhalten, will er mich in Sicherheit wiegen, um dann überraschend zuzuschlagen? Werde ich aus dem Auto heraus verhaftet, wenn ich das nächste Mal die sachsen-anhaltinische Landesgrenze überfahre? Vielleicht zahle ich besser: Ablass.
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