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■ Willy Brandt und die vormals radikale LinkeVon unerklärter Freundschaft

Welcher nicht gerade Geschichtsstudien treibende Zeitgenosse vermag heute noch zu enträtseln, was sich hinter Abkürzungen wie SAP, POUM oder Komintern verbirgt? Kaum mehr vorstellbar, daß die blutige Epoche von der Oktoberrevolution bis zum Kalten Krieg die Phantasie radikaler Studenten der 60er Jahre in einem Ausmaß beschäftigte, das noch das unwichtigste lokale Ereignis in den Bann einer imaginierten weltgeschichtlichen Auseinandersetzung zog. Eine Zeit, in der ein harmloser sozialdemokratischer Bezirksfunktionär vor einer wütenden Versammlung Rechenschaft ablegen mußte darüber, daß die SPD 1914 den Kriegskrediten zugestimmt hatte — so als ob dieses fatale Ereignis keine vier Wochen zurückläge. „Wer hat uns verraten — Sozialdemokraten“, hallte es durch die Straßen von Wedding und Neukölln, wo, Stoßtruppunternehmungen gleich, studentische Demonstrationen die renitenten Einwohner dazu aufriefen, mit dem sozialdemokratischen Klassenfrieden Schluß zu machen. Wer aber hatte die verräterische Politik der Ebert und Noske, der Müller und Wels fortgesetzt, wenn nicht Willy Brandt, der 1966 einer Koalition beitrat, zu deren vordringlichsten Zielen die Durchsetzung der Notstandsgesetze zählte?

Nein, die radikalen Linken liebten Willy Brandt nicht. Ein wenig gerieten sie durcheinander, als der neue Bundeskanzler mit dem Amnestiegesetz von 1970 vielen von ihnen einen längeren Gefängnisaufenthalt ersparte, aber die Berufsverbots-Beschlüsse wenig später sorgten wieder für Ordnung im Weltbild. Die neue Ostpolitik erschien nicht nur den hartgesottenen Maoisten als der Versuch des westdeutschen Kapitals, sich die Rohstoffe und billigen Arbeitskräfte des Ostens unter den Nagel zu reißen. „Mehr Demokratie wagen“, „Versöhnung mit dem Osten“ — alles nur Sprechblasen, alles nur „Rauchvorhang“ auf dem Marsch in den autoritären Staat.

Staatsmänner, die der Macht adieu sagen, haben bei der Linken die besseren Karten. Sachte, Schritt für Schritt, begannen die in ihren Gewißheiten erschütterten Radikalen, sich auf den alten Mann zuzubewegen, der, immer noch Vorsitzender der Status-quo- Partei, erstaunliche Dinge verbreitete. In dem Maße, in dem bei der Linken das Pathos des revolutionären Internationalismus erkaltete und das Zutrauen in die Machbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse unter der Herrschaft der Arbeiterklasse zerrann, gewann eine Stimme an Bedeutung, die am Universalismus, freilich keinem sozialistisch interpretierten, an der Verpflichtung gegenüber der einen Welt festhielt. Die der Form nach sanft, aber unerbittlich die Selbstbeschränkung des glücklichen Teils der Welthälfte forderte und einen massiven Transfer Richtung Süden, mithin das Teilen einklagte. So wurde schließlich der alte Streit vergessen und Brandt noch zu Lebzeiten in das Pantheon großer Männer verfrachtet, wo Blumen niedergelegt und ehrfürchtig geschwiegen wird.

Dieses Schicksal hat der Politiker Willy Brandt nicht verdient, vor allem nicht von Seiten derer, die ihn einmal so wütend bekämpften. Der milde Glanz der Abendsonne soll nicht alles verschönen. Noch immer sitzt der Stachel, die Erinnerung an eine Politik, die das Massaker der Amerikaner in Vietnam guthieß, weil angeblich nur so das Engagement der USA für Berlin zu retten wäre. Gegenüber einer Generation, die, streicht man alle Rhetorik ab, es ehrlich meinte mit ihrem moralischen Einsatz, wurde kalte Realpolitik praktiziert. War es wirklich nötig, vor der innerstaatlichen Feinderklärung der reaktionären Kräfte in Deutschland zu Beginn der 70er Jahre zurückzuweichen und den gerade eben erst begonnenen Prozeß gesellschaftlicher Demokratisierung abzubrechen? Mußte der linke Radikalismus, der sich schon selbst eingemauert hatte, auch noch zusätzlich von Seiten des Staates in die Isolation getrieben werden? Das sind keine leichthin geäußerten Fragen. Die meisten derer, die einstmals Brandt und die Sozialdemokratie geißelten, haben sich mittlerweile ganz gut mit der deutschen Wirklichkeit arrangiert, einige sogar allzu gut. Aber es gab auch nicht wenige, die an der doppelten Folge von Selbstisolation und Isolation zerbrochen sind.

„Links und frei“ wollte Willy Brandt sein, und er ist es gewesen — so können wir jetzt seinen Lebenslauf lesen. Er hat sich nicht einsperren lassen, nicht in den Knast kommunistischer Heilserwartung und auch nicht in das komfortablere Gefängnis des sterilen, antikommunistischen Glaubenseifers. Jetzt könnte sein Leben zum Exempel werden für eine „nachsozialistische“ Linke. Aber wer interessiert sich heute schon für Lebensläufe? Christian Semler

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