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Wilhelmsburger*Innen hängen gern gemeinsam draußen Rum – die einen Cornern, die anderen KörnernSonnenblumenkerne statt Kotze und Pipi

Foto: privat

Inselstatus Leyla Yenirce

Liebe Insel! Wo anderorts nach dem Wochenende Kotze und Pipi die Gehwege zieren, sind es in Wilhelmsburg die Schälchen kleiner weißer Sonnenblumenkerne. Mit ihnen markieren die Menschen ihr Revier. So wie früher auf dem Spielplatz, als meine Freunde und ich mit einem Edding „Wir waren hier“ auf Laternen und Metallrutschen kritzelten, samt unserer Namen und dem Datum.

In Wilhelmsburg schreibt zwar niemand auf einen Hauseingang, dass er oder sie sich gerade dort aufgehalten hat, aber die Dichte an Körnerschalen verraten, dass es ein genüsslicher Nachmittag war. Treppenstufen und öffentliche Plätze stehen auf dem ersten Rang, wenn es um den perfekten Sitzplatz zum Körner essen geht.

Das Problem: Die Straßenreinigung kommt meist mit den vielen Schalen nicht hinterher und wenn es dann auch noch regnet, weichen sie auf, kleben am Pflaster und verewigen sich im Straßenbild. Wegfegen mag sie auch niemand, weil nach kurzer Zeit schon wieder ein neues Häufchen da ist, wo eben noch eine Gruppe junger Frauen eine Pause beim Flanieren einlegte.

Für die einen wahrscheinlich die Vermüllung des öffentlichen Raumes, für die anderen ein Zeichen dafür, dass sich niemand um saubere Straßen schert, sondern eher um das eigene Vergnügen. Gentrifizierungsgegner*innen würden jetzt „Prima“ schreien: „Wilhelmsburg bleibt dreckig!“ Der Kioskbesitzer bei mir um die Ecke sieht das anders. Er fegt mehrmals am Tag seinen Eingang. „Das ist Wilhelmsburg, was willst du machen“, sagt er.

Tatsächlich gehören Sonnenblumenkerne auf die Wilhelmsburger Straßen genau so wie junge Bier trinkende Studierende, die die Hauseingänge bis spät in die Nacht blockieren. Auf den Straßen abhängen ist hier Tradition und die Menschen möchten dabei konsumieren. Das ist Teil der öffentlichen Kultur im Stadtteil. Wenn es kein Alkohol ist, sind es eben Sonnenblumenkerne. Die einen cornern, die anderen körnern.

Sonnenblumenkerne kosten im türkischen Supermarkt weniger als zwei Euro und können anders als eine Flasche Bier auch mit vielen geteilt werden. Und vor allem sind sie lecker. Die salzigen Schalen machen süchtig und wer ein mal angefangen hat, kann nicht mehr aufhören, ganz wie in der Pringles-Werbung aus den Neunzigern: „Ein Mal gepoppt, nie mehr gestoppt.“

Hier ist immer viel los auf den Straßen und sich eine schöne Zeit zu machen, geht gemeinsam und mit einer Tüte Sonnenblumenkerne besonders gut. Die Körnerschalen sehen zwar nicht schön aus auf dem Boden, aber räuchern immerhin weniger als öffentliches Grillen.

Leyla Yenirce ist Kulturwissenschaftlerin und schreibt wöchentlich aus Wilhelmsburg über Spießer*innen, Linke, Gentrifizierer*innen und den urbanen Wahnsinn in der Hamburger Peripherie.

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