Wieso Wilhelmsburg nur in der Phantasie eine grüne Idylle ist: Wenn der Bass in die Ruhe knallt
Inselstatus
Leyla Venirce
Klettert das Thermometer auf über 25 Grad rasten die Großstädter*innen aus. Im Supermarkt sind die Fleischtheken leergefegt, draußen wird nach 22 Uhr auch unter der Woche Bier getrunken und auf den Straßen sammeln sich Klüngel mit nackten männlichen Oberkörpern. Wo die Leute die Sonne in Hamburg am liebsten genießen, ist an der Dichte der Grillwolken zu erkennen, die über den Grünflächen schweben.
Egal ob an der Alster, am Elbstrand oder eben in Wilhelmsburg. Denn neben günstigen Mieten ist ein Zuzugsargument immer: Wilhelmsburg ist so grün – vom Elbdeich an der Harburger Chaussee bis zum idyllischen Veringkanal.
Dass das schöne Grüne nur eine Illusion ist, wird spätestens deutlich, wenn Bewohner*innen bei gutem Wetter jene grünen Wilhelmsburger Grill-Hotspots aufsuchen. Dort zeigt sich dann ein Szenario des Grauens.
Das beginnt mit pissenden Männern am Elbdeich und endet mit Glasscherben auf den Radwegen, die eine Fahrradfahrt quasi unmöglich machen. Abgesehen von den Fliegen, die einem, wenn doch einmal aufs Rad gestiegen, in Mund, Augen und Ohren fliegen. Über den Wiesen hängt der Qualm der Einweggrills, der die ohnehin schon schwüle Luft noch stickiger macht und vor Rauchwolken sieht man den Hafen nicht mehr.
Wohin also bei dem schönen Wetter? Vielleicht an einen abgelegen Kanal statt an den überfüllten Deich? Keine Chance, wer versucht am Kanal entspannt die Sonne zu genießen, wird entweder von vorbeifahrenden Lastwagen gestört, weil wir uns ja immer noch in Hafennähe befinden, oder von Jugendlichen, die ihren Musikgeschmack als allgemein gültige Wahrheit erklären und mit portablen Boxen den Bass in die Ruhe knallen. Bevor das Picknick ausgebreitet wird, müssen eh erst Mal noch Kippenstummel und Bierdeckel von der Wiese gepult werden. Und wen es doch aus dem öffentlichen Raum in den kleinen Garten eines Hinterhauses zwingt, wird Zielscheibe aggressiver Mücken.
Mein Rat: am besten drinnen bleiben. Ist ja sonst auch nicht so sonnig in Hamburg. Oder an die Ostsee fahren. Machen Norddeutsche ja gerne und einfach dort grillen. Ist schließlich nicht weit weg und da ist viel Platz.
Leyla Yenirce ist Kulturwissenschaftlerin und schreibt aus Wilhelmsburg über Spießer, Linke, Gentrifizierer und den urbanen Wahnsinn in der Hamburger Peripherie.
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