: Wie würden Sie entscheiden?
Frauen fällen bekanntlich oft andere moralische Urteile als Männer. Angelsächsische Philosophinnen streiten um die richtige Mischung von Frauenmoral und Männermoral ■ Von Martina Herrmann
Es gibt einen Befund: Frauen haben eine andere Moral als Männer. Die Frauenmoral ist an Fürsorge und Einfühlung ausgerichtet, mehr am konkreten Gegenüber orientiert als die Männermoral. Die Männermoral geht eher von der allgemeinen moralischen Regel aus, gleicht Interessen nach Fairneßgesichtspunkten ab und vernachlässigt die individuellen Besonderheiten. Es ist nicht besonders klar, welchen Status dieser Befund hat: Manche halten ihn für empirisch, andere für normativ, wieder andere für ideologisch. Jede Variante ist so plausibel wie umstritten.
Als Carol Gilligan 1982 die empirische Variante des Befundes vertrat (deutsch: „Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau“, Piper, München 1984), kam es in der Folge zu einer lebhaften Diskussion. Verschiedene Konzeptionen von Moral, geläufig in Moral- und Sozialphilosophie, in politischer Theorie und Entwicklungspsychologie, schienen laut Gilligan im moralischen Urteil von Frauen (statistisch signifikant) nicht präsent zu sein. Wie ist das zu beurteilen? Was folgt daraus für die feministische Theorie? Für die Theorie der Moral? Für Sozialphilosophie und politische Theorie? Der Unterschied mußte eine tiefere Bedeutung haben. Es mußte neue Anschlußmöglichkeiten für feministische Ethik geben. Aber jede dieser Möglichkeiten entpuppte sich als Weg zurück zu einer alten Diskussion.
Nimmt man den Befund empirisch, fragt man sich gleich wieder, ob es denn Schicksal sei, daß Frauen und Männer so unterschiedlich sind. Nimmt man den Befund normativ, verwickelt man sich in eine Diskussion darum, welche Moral zu haben denn besser sei, die der Frauen oder die der Männer. Und nimmt man ihn ideologisch, landet man ganz schnell bei der These, daß es wieder nur eine perfide Form von Ausbeutung ist, Frauen Fürsorglichkeit vorzuschreiben, wo Männer angehalten sind, sich ihren Teil zu nehmen.
Mittlerweile kann man bei vielen Beiträgen zur Diskussion, insbesondere angelsächsischen, den Eindruck haben, daß es kaum eine moralphilosophische Debatte gibt, die nicht eine ähnliche Pointe hat wie die Debatte um eine feministische Ethik: Kommunitaristen gegen Liberalisten, Neo-Aristoteliker gemeinsam mit den Freunden Humes gegen Neo-Kantianer, Utilitarismuskritiker gegen Utilitaristen, und eben auch Frauenmoral gegen Männermoral. Immer geht es irgendwie um das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, um das Primat der Autonomie oder das Primat der Beziehung mit anderen, um Eigenständigkeit gegen Eingebundensein.
Dieser Eindruck wird durch die Beiträge eines jetzt erschienenen Sammelbandes von Herta Nagl- Docekal und Herlinde Pauer-Studer wohltuend korrigiert. Hier wurden, neben den Originalbeiträgen der Herausgeberinnen, Arbeiten angelsächsischer Autorinnen gesammelt, die eine Auseinandersetzung um Geschlechtermoral nicht als Nebenschauplatz allgemeinerer Diskussionen ansehen. Differenzierung scheint mir die aussichtsreichere Strategie, will man wenigstens etwas von dem ursprünglichen Versprechen einer neuen Orientierung einlösen. Der Buchtitel „Jenseits der Geschlechtermoral“ formuliert dabei nicht die Schreibperspektive, allenfalls das Ziel einiger der vertretenen Autorinnen. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist, daß es in irgendeiner Form eine Frauenmoral und eine Männermoral gibt. In der Gesamttendenz ist das kein Befund, dessen Konservierung empfohlen wird. Die normative Integration nimmt sich allerdings komplizierter aus, als zwei und zwei zusammenzuzählen.
Marilyn Friedman beispielsweise verschränkt Fürsorge mit Gerechtigkeitsidealen, indem sie zeigt, daß selbst Nahbeziehungen nicht allein von einem Fürsorgeideal leben können. Gegen jedes Ideal wird verstoßen. Für eine Kränkung wird eine Wiedergutmachung, eine Entschuldigung erwartet. Sich nahestehende Menschen geben einander idealiter etwa denselben Grad an Aufmerksamkeit und Zuwendung. Ohne auch noch so vage Vorstellungen von Gerechtigkeit in Beziehungen lassen sich solche Ansprüche nicht formulieren. Man könnte gar nicht verstehen, was eigentlich verwerflich ist, wenn in einer heterosexuellen Liebesbeziehung von Frauen die „Beziehungsarbeit“ erwartet wird. Es sei denn, es gibt Fairneßregeln, auf die sie sich berufen können.
Eine eigenwilige Wendung der „männlichen“ Prinzipien der Gerechtigkeit präsentiert Susan Moller Okin in ihrer Kritik an John Rawls. Bei einer vertragstheoretischen Begründung der Gerechtigkeitsprinzipien müssen alle Beteiligten die anderen in fairer Weise berücksichtigen. Okin macht geltend, daß man andere nur adäquat berücksichtigen kann, wenn man weiß, was sie wollen. Dazu muß man sie genauer verstehen. Und dazu wiederum muß man sich in sie hineindenken und -fühlen können. Womit sie bei einer Fürsorglichkeitsperspektive auf dem Grunde der Vertragstheorie angekommen wäre.
Ähnlich sieht Onora O'Neill die Notwendigkeit einer empathischen Einstellung auf dem Grunde der Kantischen Moral mit ihrem fast sprichwörtlichen Rigorismus. Andere als Personen zu behandeln und nicht zu benutzen heißt mehr, als andere weder zu täuschen noch zu schlagen. Manipulation und Paternalismus mißachten die Selbständigkeit gerade Abhängiger in perfider Weise, selbst bei besten Absichten. Es genügt aber auch noch nicht, einen Katalog von Verfehlungen zu vermeiden. Die andere Person als die zu achten, die sie ist, heißt, sich ihre Ziele so zu eigen zu machen, wie sie sich selber sieht, und ihr dabei zu helfen. Dazu braucht jede Person Einfühlungsvermögen und Anteilnahme in ihrer Grundausstattung. Mit einem Pflichtenkorsett ist es nicht getan.
Die genannten Autorinnen haben eine nicht allgemein geteilte Grundüberzeugung: Es gibt eine wahre Moral in der falschen. Sie kann herausgearbeitet werden im unspektakulären Alltagsgeschäft der Ausdeutung. Integration kann glücken ohne Reduzierung auf Altbekanntes und ohne Prioritäten. Das muß reichen für eine tiefere Bedeutung.
Eine Bibliographie wäre schön gewesen. So muß man sich weiterführende Literatur aus den Fußnoten zusammenklauben. Für systematisch Interessierte gibt es immerhin ein Personenregister. Über die Literatur und die genauen Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen Themen der Moraltheorie orientieren die Arbeiten der Herausgeberinnen sehr kompetent. Wer die Schwerpunkte feministischer Ethik systematisch entwickelt bevorzugt, sollte sich zur Einleitung lieber an den wunderbar klaren Aufsatz von Alison M. Jaggar halten. Noch ein letzter Grund zur Empfehlung: Es gibt ziemlich viele Seiten fürs Geld, und darauf findet sich viel mehr, als ich hier wiedergeben konnte.
Herta Nagl-Docekal und Herlinde Pauer-Studer (Hrsg.): „Jenseits der Geschlechtermoral. Beiträge zur feministischen Ethik“. Fischer Verlag (Reihe: ZeitSchriften), 376 Seiten, 24,90 DM
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