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Wie nationalistisch ist China?Allgemeiner Unmut

Eine nationalistische Welle scheint China zu erfassen. Aufgebrachte Jugendliche rufen zum Boykott einer französischen Supermarktkette auf. Dahinter steckt ein diffuser Minderwertigkeitskomplex.

Aufgebrachte Studenten durchbrechen die Absperrung vor der US-Botschaft in Kiew. Bild: dpa

Xu Zhiyuan war dabei. Der heutige Kolumnist der Asia Weekly und Financial Times China demonstrierte 1999 mit hunderten StudentInnen aufgebracht vor der US-amerikanischen Botschaft. Die Nato hatte aus Versehen die chinesische Botschaft in Belgrad bombardiert. Organisiert von den Regierungsbehörden seien sie auf LKWs angekarrt worden, berichtet Xu. „Aus Spaß“ sei er mit dabei gewesen, „ich wusste damals gar nicht, was Nationalismus bedeutet.“

Die Proteste vor der US-Botschaft von 1999 werden von China-Experten häufig als Beginn des modernen chinesischen Nationalismus gesehen. Seitdem kommt es immer wieder zu antiwestlichen oder antijapanischen Demonstrationen, begleitet von patriotischen Rufen wie „Ich liebe mein Vaterland“ – meist als Reaktion auf Proteste von Menschenrechtlern im Westen wie vergangenes Jahr vor den Olympischen Spielen oder wenn es um Tibet geht.

Doch gibt es in China wirklich einen erstarkenden Nationalismus? Wie gefährlich ist er? Und lässt er sich vergleichen mit dem Nationalismus einst in Deutschland?

Das Goethe-Institut, die Alexander von Humboldt-Stiftung und das deutsche Buchinformationszentrum in Peking haben Xu Zhiyuan zu einer Podiumsdiskussion geladen, auf der es um diese Fragen geht. Für seinen Mitdiskutanten Chen Daqing gibt es Nationalismus im westlichen Sinn in China gar nicht. Der ehemalige Professor an der berühmten Qinghua-Universität in Peking, inzwischen Maler und Buchautor, hält die Befürchtungen im Westen für völlig überzogen.

taz.de auf der Buchmesse

Die taz kooperiert dieses Jahr mit der Frankfurter Buchmesse. Unter dem Titel "Die Chinesen sind da" wirft die taz einen genauen Blick auf die Auseinandersetzung mit dem Gastland China.

Die taz steht für bedingungslose Meinungsfreiheit, für hartgeführte Kontroversen, für die – wenn nötig – offene Provokation. Sie steht für genau das, was auf der Buchmesse mit dem Gastland China in diesem Jahr zu kurz zu kommen droht.

Warum aber engagiert sich die taz – trotz des Eklats im Vorfeld um die Aus- und Einladung der chinesischen Dissidenten – für das Buchmessen-Experiment mit China?

Wir glauben, dass Rück- und Tiefschläge im Dialog mit China, der peinliche Fehltritt des Buchmessendirektors eingeschlossen, unvermeidlich sind. China ist der “große Fremde” für den Westen, sagt der Philosoph Jürgen Habermas. Das Land ist heute mächtiger denn je. Das macht den Dialog so schwierig.

Aber es gibt zu ihm keine Alternative.

Das taz-Portal zur Buchmesse finden Sie unter buchmesse.taz.de.

Patriotismus und Nationalismus, Marxismus und Sozialismus – das seien für die meisten Chinesen alles aus dem Westen importierte Begriffe, die sie selbst nicht so recht verstehen. Ein ernsthaftes Interesse, sich ausführlich mit diesen Ideologien zu beschäftigen, gebe es nicht. Nicht einmal mehr bei der Zentralregierung. Was das aktuelle politische Geschäft betrifft, handelten auch die meisten Regierungsvertreter heute „reichlich unideologisch“, so Chen.

Als Beispiel führt Chen den Besuch von Bill Clinton 1998 an der Peking Universität an. Die Regierung hatte zuvor ausschließlich patriotisch eingestellte StudentInnen ausgesucht, die entsprechend Stimmung gegen den damaligen US-Präsidenten machen sollten. Hätte man sie im Anschluss der Veranstaltung gefragt: Das Angebot auf ein Studium in den USA hätte keiner von ihnen ausgeschlagen, ist Chen überzeugt. Ähnlich sei die Stimmung bei den jungen Chinesen heute: Die derzeitigen nationalistischen Töne in Internetforen seien nicht wirklich ernst zu nehmen.

Wenn junge Chinesen als Reaktion auf die Fackelproteste in Frankreich ihrerseits umso wütender mit Protesten vor der französischen Kaufhauskette Carrefour antworten, dann nutzen sie den Anlass,, um ihrem allgemeinen Unmut Luft zu machen. Der ehemalige Qinghua-Professor führt die anti-westlichen Proteste auf die mangelnde Meinungsfreiheit zurück. Pro-chinesische Demonstrationen seien die einzigen Proteste, die ihnen die Regierung erlaubt – und das auch nur, solange sie nicht außer Kontrolle geraten.

Der junge Journalist Xu pflichtet ihm bei. Er sieht den Nationalismus in China derzeit als ein weit gehend von oben gesteuertes Konstrukt an, das nicht wirklich die allgemeine gesellschaftliche Stimmung widerspiegelt. Der rasante Wandel der vergangenen zwei Jahrzehnte habe dazu geführt, dass vielen jungen Menschen ein identitätsstiftendes Gemeinschaftsgefühl verloren gegangen sei. Die junge Generation wüssten nicht mehr, wozu sie gehören. Xu spricht von einem „diffusen Minderwertigkeitskomplex“.

Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts, weist darauf hin, dass Patriotismus immer dann gefährlich wird, wenn er instrumentalisiert wird. Dies würde von der Zentralregierung in China derzeit durchaus getan.

Chen ist dennoch fest davon überzeugt, dass der Nationalismus im heutigen China eine andere Prägung hat als Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa. Die sprachliche, kulturelle und auch geographische Einheit habe in China viele hundert Jahre früher stattgefunden als in den Ländern Europas. Die Phase eines „romantisierenden Nationalismus“ hätten die Chinesen vor langer Zeit hinter sich gebracht. Und wenn der Staat seine Bürger heutzutage dazu auffordert, dass sie ihr Land lieben sollen, dann meint er eigentlich: Liebt eure Regierung.

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1 Kommentar

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  • M
    Martin

    Herr Lee, sie schreiben u.a., dass Marxismus und Sozialismus Begriffe sind, die in China nicht verstanden werden. Aber Sie wissen auch, dass China verfassungsmäßig von der KPCh regiert wird und diese laut Statut angeblich nach Grundsätzen des Marxismus-Leninismus und des Gemeineigentums handelt, die Vorhut der Arbeiterklasse Chinas darstellt und mit ihren 70 Millionen Mitgliedern täglich für Marxismus-Leninismus und Kommunismus kämpft: 'Die sozialistische Sache Chinas wird bestimmt den endgültigen Sieg erringen, solange man an den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus festhält' (Statut der KPCh, 2007). Es ist daher grotesk, wenn so gut wie kein Chinese auch nur die geringste Ahnung von der Bedeutung dieser Worte hat, für die er angeblich täglich kämpft. Wie idiotisch ist das? Warum unterziehen sich denkende Menschen der Groteske? Und wie geht es bei örtlichen Parteiversammlungen in China in Wahrheit zu, wenn dort Kapitalisten und korrupte Funktionäre die Herrschaft der Arbeiterklasse bestimmen? Ich frage mich, warum dieses auch bei der hiesigen Rezeption Chinas einen blinden Flecken darstellt, als ob wir als denkende Menschen in Bezug auf China unsere Fragen nicht als allererstes an die schizophrene Groteske einer Staatsideologie zu stellen hätten, die nur aus Wortblasen besteht, bei der noch nicht einmal der Staatspräsident fähig wäre, den aktuellen Stand des Sieges des Leninismus in China anhand der Schriften Lenins darzustellen. Ob er ein Werk Lenins las? Lenins 'Staat und Revolution' über die Notwendigkeit, den Staat der Ausbeuter zu stürzen? Dann wüßte er, dass die Verlogenheit korrupter Staatsherrschaft an der Begründung ersichtlich wird. Und sie zieht sich in China bis in die Niederungen der Verfolgung und Folter an Opfern korrupter Parteichefs, kapitalistischer Ausbeutung und Opfern der Umweltzerstörung. Diese werden in China mit einem abstrusen Geschwätz über Kommunismus oder Leninismus plattgewalzt, ohne jeden Inhalt. Grauenhaft, komplett idiotisch.