piwik no script img

Christa Pfafferott Zwischen MenschenWie man es sich schwer macht

Foto: privat

Christa Pfafferott ist Autorin und Dokumentarfilmerin. Sie hat über Machtverhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.

Straßenecke, Feierabend. Eine ältere Dame stößt zwei Rollkoffer am Bürgersteig entlang. Der eine ist geblümt, der andere ein riesiger, silberner Kasten. Darauf hat sie noch einen Koffer gewuchtet und eine kantige Handtasche. Ich halte abrupt mit dem Rad. Sie sieht aus wie ein Notfall, wie jemand, dem gerade das letzte Taxi weggeschnappt wurde, eine Frau, um die 60, in einem roten Mantel mit kinnlangen, blond gefärbten Haaren. Frisch wirkt sie, aber zu zart für all die Last, die sie zieht. „Wo müssen Sie denn hin“, frage ich. „Da vorne an die Straßenecke und dann links“, sagt sie. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“ Ich steige vom Rad und nehme ihr den geblümten Koffer ab. Das Gewicht überrascht mich. Ein fieses, kompaktes Gewicht, das in den Rücken kriecht, alle Bewegung verlangsamt.

Ich ziehe los, mit Rad und Koffer. Kurz sehe ich im Gesicht der Frau Angst, dass ich ihr damit abhaue. Gleichzeitig scheint sie erfreut, als würde ich bei einem Projekt mitmachen, für das sie bislang keine Anhänger gefunden hat. Mit ihren drei übrigen Koffern hat sie immer noch Mühe. Eine Tasche fällt ihr hinunter. Ich bleibe stehen und warte vor einer langen Büroglasfront, einer glatten Welt, in der wir uns spiegeln. Woher kommt sie eigentlich?

„Kommen Sie aus einem Hotel?“ „Nein“, sagt sie. „Ich habe wohnliche Probleme. Ich werde bestohlen. Ich nehme mir jetzt einen Anwalt. Alleine schafft man das ja nicht mehr.“ Mir dämmert auf einmal: Sie ist keine ältere Dame, die mal eben zwischen Hotel und Taxi ihr Ferien-Gepäck wuchtet. „Ich wohne seit 18 Jahren in meiner Wohnung. Ich bin seit 18 Jahren eine gute Mieterin.“ „Aber woher kommen Sie denn?“ „Vom Einkaufen“, sagt sie. „Und dann nehmen Sie all das mit?“ Ich bin fassungslos. „Natürlich, das musste ich doch“, sie schaut mich verständnislos an. „Ich hab kaum noch was zu Hause. Meine Schränke sind fast leer.“

Diese Frau schleppt jedes Mal ihren ganzen Haushalt mit, wenn sie Einkaufen geht. Auf einmal fühlt sich die Last unheimlich an. In dem monströsen Koffer müssen Ziegelsteine sein, eine Mikrowelle, ein Fernseher oder sonst etwas Irres. Meine Bereitschaft, ihr Gewicht abzunehmen, ist augenblicklich gesunken. Ich spüre, wie ich innerlich von unserem gemeinsamen Weg eine Abzweigung nehme. Der Moment, in dem ich für mich checke: „Ach so, eine Verrückte. Äh, ich muss dann mal.“

Komisch. Warum eigentlich? Was ist denn notwendiger? Koffer zu einem Flughafen zu schleppen oder sie nach einer inneren Logik mit in den Supermarkt zu nehmen? Mir fallen die Obdachlosen ein, die an ihrem Hab und Gut festhalten, als wäre es ihr Leben selbst. Die Frau, die rund um den Rödingsmarkt mit etwa 15 Kinderwagen stückchenweise ihr Hab und Gut transportiert. Ihr ganzer Tag ist damit gefüllt, dass sie einen Wagen nimmt, nach vorn schiebt, zurückläuft und den nächsten zieht. Einmal habe ich sie angesprochen. Sie hat völlig durch mich hindurchgesehen, ein Blick, der einem die eigene Existenz infrage stellt.

Wann geht das los? Wann fangen Menschen damit an, dass sie es sich schwer machen? Dass sie jeden Schritt mit Gewicht an den Füßen gehen. Passiert das auf einmal oder jeden Tag ein bisschen mehr? Und andererseits, denke ich, vielleicht wird es bei dieser Frau einfach nur konkreter: Im Grunde versinnbildlicht sie doch nur, dass die meisten Menschen damit beschäftigt sind, sich Last anzubinden. Durch Besitz, Schulden, Gedanken, die zu großen Problemen werden, die wir überallhin mitnehmen.

„Ich lass mich nicht verschaukeln. Ich gebe nicht auf“, sagt die Frau. Ihre Augen leuchten. Sie kommt näher. Ihr Mund ist leer, innen kann man dunkles, weiches Fleisch sehen. Sie ist zahnlos. Immer mehr Verwundbares fällt mir an ihr auf – und gleichzeitig umso mehr Kraft. „Ich muss weiter geradeaus“, sage ich an der Ecke zu ihr. Und das stimmt auch. Aber ich frage mich auch, ob ich mehr Umweg in Kauf genommen hätte, wenn ich weiter an die feine Dame mit Reisegepäck in ihr geglaubt hätte.

Die Frau nickt fröhlich, dankbar für das bisschen gemeinsamen Weg. Und dabei wirkt sie völlig unabhängig. Wenn jemand ein Stückchen mitgeht, ist das schön, aber nicht wesentlich für ihren Weg. „Wir Frauen müssen zusammenhalten“, sagt sie zum Schluss. „Alles Gute“, ruft sie mir kraftvoll zu. Ich spüre dieses warme Gefühl, das entsteht, wenn man jemandem geholfen hat. Und ich fühle mich durch ihren Gruß bekräftigt. Ich fahre die Straße hinab. Leicht fühle ich mich, ganz leicht. Ich habe ihr Gewicht losgelassen, aber etwas unbestimmtes Starkes hat sie mir mitgegeben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen