: Wie ein modernes Märchen
■ Von den Berührungsängsten des so genannt Fremden befreit: Vlatyslav Sendeckis Weltmusik-Suite Anima Mundi wird beim NDR-Jazzwochenende in Lokstedt aufgeführt
Anima Mundi – die Seele der Welt: Am Sonnabend spielt die NDR-Bigband unter Leitung von Dieter Glawischnig auf dem Sendergelände in Lokstedt eine „Weltmusik-Suite“ von Vladyslav Sendecki. Der 1955 in Polen geborene Pianist und Komponist lässt die Bigband auf Klänge und Gesänge aus den verschiedensten Teilen der Welt treffen. Die Soundeinheiten, als so genannte Samples verwendet, sammelt Sendecki seit vielen Jahren.
Die musikalische Weltreise führt von Afrika über Asien und Indien bis nach Europa. Im Gespräch erzählt der in Hamburg lebende Jazzpianist über die für eine Bigband unorthodoxe Musik.
taz hamburg: Herr Sendecki, was ist das Besondere an Ihrem Projekt mit der NDR-Bigband?
Vladyslav Sendecki: Es ist nicht einfach, in einem großen Ensemble jede einzelne Stimme kompositorisch so zu platzieren, dass sie sich eigenständig entfalten und wirken kann. Anima Mundi provoziert das. Die Welt ist schließlich die Summe der einzelnen Menschen. Anima Mundi, die „Seele der Welt“, ist die Summe der einzelnen Seelen. Und für diese eine Stunde kommt die Welt zusammen. Durch die Verwendung von Samples entsteht ein Gefühl von weltweiter Kommunikation, wie im Internet. Und wie dem Internet, so liegt auch Anima Mundi das ursprüngliche Kommunikationsbedürfnis des Menschen zugrunde. Anima Mundi ist eine Form der Globalisierung.
Warum ist die Kommunikation so wichtig und welche Rolle spielt das für Sie und Ihr Projekt?
Ich finde, dass jede Kultur das Recht und die Pflicht hat, zu exis-tieren und sich zu entfalten, um der Menschheit zu dienen. Und das meine ich nicht nur musikalisch. Als ich mit 19 Jahren im asiatischen Teil von Russland war, hat ein sehr alter Mann im Bus auf seiner Flöte gespielt und gesungen. Obwohl das für mich ungewöhnliche Klänge waren, waren Geistigkeit und Tiefe dabei so offensichtlich spürbar und bewegend. Anima Mundi bedient sich solcher Erlebnisse, die ich überall in der Welt gehabt habe. Da war eine Verbindung, die man gar nicht erklären kann. War das Kommunikation? Ja, über die Musik war sie da. Und jeder Mensch hat den Zugang zu Musik.
Ich habe das Gefühl, dass wir in der industriellen Welt das Emotionale und das Intuitive verlernen und sogar verdrängen. Anima Mundi ist wie ein modernes Märchen. Es drückt eine kindliche Begeisterung für die Begegnung mit dem Unbekannten aus. Und das ist meine Art. Anima Mundi ist wie ein Dialog, der zwar in verschiedenen Sprachen geführt wird, aber trotzdem der Verständigung dient. Sehen Sie sich meine Pflanzen hier an: Ich widme ihnen viel Aufmerksamkeit. Deshalb fühlen sie sich wohl und machen mir durch ihre Pracht sehr viel Freude. Das ist in meinen Augen auch ein Dialog.
Und welche Bedeutung hat der Titel Anima Mundi?
Auf den Namen Anima Mundi ist Karl Dedecius (Übersetzer polnischer Literatur ins Deutsche, Anm. d. Red.) ganz spontan gekommen, und das hat mein Werk perfekt definiert. Und das Lateinische überspringt Zeit und Raum, genau wie diese Musik. Ein Klangsample von einem hundertjährigen Mann, der in the middle of nowhere unter einem Baum sitzt und Töne von sich gibt, taucht plötzlich in einem modernen mitteleuropäischen Jazzensemble auf und hat so viel musikalische Kraft, dass der alte Mann an diesem musikalischen Geschehen gleichwertig teilnimmt. Anima Mundi ist von Berührungsängsten mit dem so genannten Fremden befreit. Es gibt den Satz eines polnischen Schriftstellers: „Nichts, was menschlich ist, ist mir fremd.“ Meiner Meinung nach kann alles, was angeblich unpassend und fremd ist, durch Kreativität und angstlose Betrachtung zu einem gemeinsamen Werk zusammengeführt werden. Die Welt wäre fürchterlich traurig, wenn es diese Vielfalt nicht gäbe.
Ich bezeichne mich selbst als einen heimatlosen Menschen, aber ich fühle mich überall zuhause, obwohl ich nicht jede Sprache sprechen kann. Ja gut – mit Musik ist es möglich, vieles, und besonders sich selbst auszudrücken. Die politischen und administrativen Konstrukte haben letzten Endes doch keinen so großen Einfluss auf die Zusammengehörigkeit von uns allen. Sie können uns weder spalten noch zusammenführen. Das Globale gab es schon lange vor dem neu geprägten Schlagwort der Globalisierung. Die Zusammengehörigkeit ist die natürliche Tendenz in uns Menschen. Anima Mundi ist die Feier dieses Zusammenkommens.Interview: Eva Zießler
mit Maria João Quartett und Walter Norris-Aladár Pege-Duo: Sonnabend, 19 Uhr; Sonntakte – Jazz-Frühschoppen (Christian Willisohn Trio, Wolfgang Schlüters Swing Revival und Barrelhouse Jazzband) Sonntag, 11 Uhr; NDR-Gelände Lokstedt, Hugh-Greene-Weg 1; Auschnitte: Sonntag, 20.05 Uhr, Hamburg-Welle 90,3
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