Wie die Waldorfschule Vertrauen lehrt: Sie wollten Fügsamkeit
In der Waldorfwelt scheint alles Sinn zu ergeben. Unsere Kolumnistin schildert, wie sie Indoktrination erlebte und warum sie sich oft isoliert fühlte.
I n meiner Waldorfwelt vertrauten gute Kinder den Erwachsenen, sie waren tüchtig, lebensfroh, sprachen deutlich und bewegten sich sicher. Ich habe mich als Kind bemüht, diesem Ideal zu entsprechen. Verzagtheit, Besorgtheit, Undankbarkeit oder Misstrauen waren ungern gesehen. Vertrauen und Mut wurden gefordert, nicht gefördert.
Ich musste beispielsweise alleine zur Heileurythmie. Wann, warum und wie lange durfte ich nicht wissen – ich musste vertrauen. Auch Eltern sollten zuversichtlich sein: Dass ihre Kinder Krankheiten gut überstehen oder sich die Lesekompetenz von alleine einstellen wird, wenn das Kind so weit ist. Es ging eigentlich um blindes Vertrauen. Oder eher Fügsamkeit. Wer es nicht schaffte, „gut in der Gemeinschaft anzukommen“, wurde abgewertet und ausgegrenzt. Generell wurde Machtmissbrauch dadurch begünstigt.
Der Waldorflehrplan stellt die Grundschulzeit unter das Motto „Die Welt ist schön“ oder „Die Welt ist gut“. Es war wie ein Versprechen an uns Kinder, während die Erwachsenen einen tiefen Kulturpessimismus pflegten.
Sie hatten zwar keine Angst vor Masern, aber existenzielle Angst davor, dass wir Sesamstraße schauten. Grimms Märchen im Original, mit all ihren Grausamkeiten, waren wiederum gut. Erwachsene hatten keine Angst vor verpassten Schulabschlüssen, aber große Sorge vor dem Einfluss von Bravo und Popmusik.
Irrationale Ängste
Dem Vertrauen in die Waldorfwelt stand die Angst vor der profanen Außenwelt gegenüber. Und zwar in einem Ausmaß, das frei von jeglicher Rationalität war und zu hoher sozialer Kontrolle führte.
Mit viel Aufwand wurden wir von Regelschulen und normalen Angeboten für Kinder und Jugendliche ferngehalten. „Die Welt ist gut“ meinte wohl am Ende doch nur die Waldorfgemeinschaft.
Nur so wie wir dachten und handelten war es richtig. Das gab ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit. Ich habe unbewusst die Waldorf-Ideale und hunderte Lebensregeln verinnerlicht. Ich habe mich geschämt, wenn ich etwas toll fand, nachdem es mich nicht hätte verlangen sollen.
Ich habe mich gegen vieles, was Freude machen, abgegrenzt (Popkultur, Mode, Teeniekram) und bekam ohne meine Integrität als Waldorfkind zu verraten keinen Zugang dazu. Mir fehlen bis heute bestimmte Anknüpfungspunkte, die andere Menschen meiner Generation verbinden.
Ein leises Heimweh
Nach der Schulzeit war ich latent einsam. Irgendwie lost. Es gibt eine gewisse Arroganz, die einem als Waldorfschüler*in gegen Abwertungen von außen helfen kann, aber sie steht einem auch im Weg. Meine Welt wurde grauer. Ich war, ohne es zu merken, weltfremd geworden – unserer diversen Gesellschaft entfremdet.
In der Sektenforschung spricht man von „physically out, but mentally in“. Ich hatte die Waldorfgemeinschaft zwar körperlich verlassen, aber mental und emotional bin ich erst in den letzten Jahren ausgestiegen. Bis dahin gab es in mir immer ein leises Heimweh nach der „schönen Welt“.
Ich bin in einer sehr widersprüchlichen, esoterischen Welt aufgewachsen, die nur Sinn macht, wenn man von innen nach außen schaut. Auch wenn mir das lange nicht bewusst war. Sich aus dieser Indoktrination herauszuarbeiten, sich der Vielfalt der Welt und der eigenen Gefühle zu stellen ist holprig, mühsam und teils verwirrend – aber so, so befreiend.
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