: Wie bei einem Festzug
Der Nazi-Terror war keineswegs so unsichtbar, wie die Deutschen später oft behaupteten.Im Gegenteil: Er brauchte Publikum. Über eine ganz und gar nicht fröhliche öffentliche Gaudi
von KATHARINA SCHULER
Tief beugt sich Rolf Hau* in seinem Sessel über das aufgeschlagene Buch mit den Schwarzweißfotos. Doch lange braucht er nicht, um sich zurechtzufinden. Was er sieht, ist ihm vertraut. Es sind die Straßen seiner Heimatstadt, in der er seit über sechzig Jahren lebt. „Das ist die Obere Marktgasse“, sagt er. „Und das da, das ist am Bahnhof.“ Dann lehnt er sich zurück, hilflos hebt er die Hände: „Was soll ich Ihnen sagen? Ich weiß doch nichts …“
Als die Fotos gemacht wurden, war Rolf Hau neun Monate alt. Doch die Bilder zeigen nicht nur Häuser, durch die Straßen schiebt sich ein ganzer Zug von Menschen. Angeführt wird er von zwei Frauen mit kahl geschorenen Köpfen. Sie tragen Schilder um den Hals: „Ich bin eine ehrlose Frau“ steht darauf. Eine von ihnen ist die Mutter von Rolf Hau. Doch von dem, was sich am 7. Juli 1941 in seiner Heimatstadt Ludwigsburg abgespielt hat, hat er bis vor kurzem nichts gewusst. Seine Mutter hat nie davon gesprochen.
In dem Bildband „Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz“, in dem die Fotos vor einem Jahr erschienen sind (Klartext Verlag, Essen 2002, 216 Seiten, 19,90 Euro), findet sich ein Hinweis auf denjenigen, der für die Aktion verantwortlich war: Richard Äckerle, der örtliche Leiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF). Unter seinem Namen lagert im Staatsarchiv Ludwigsburg eine dicke Akte, es sind die Unterlagen des Spruchkammerverfahrens zur „Entnazifizierung“, das nach dem Krieg gegen Äckerle eingeleitet wurde. Sie enthält nicht nur die Vernehmungsprotokolle von 1948, sondern auch Denunziationsbriefe, Verhörprotokolle, Bekanntmachungen und Geständnisse aus der Zeit des Geschehens selbst – und ermöglicht so eine detaillierte Rekonstruktion der Ereignisse.
Am 7. Juli 1941, morgens gegen 9 Uhr, wurden wir geholt von der Kriminalpolizei und wurden zum Betrieb geführt“, erinnerte sich Marie Wagner*, eine der betroffenen Frauen, 1948 vor Gericht. Marie Wagner war Arbeiterin in einer Blechwarenfabrik gewesen, in der seit Herbst 1940 auch französische Kriegsgefangene gearbeitet hatten. Schon Monate vor den Verhaftungen hatte es das Gerücht gegeben, einige der Arbeiterinnen unterhielten intime Beziehungen zu den Gefangenen. Eine erste Anzeige war vom zuständigen Landgericht zurückgewiesen worden. Deshalb nahm Richard Äckerle mit Unterstützung der NSDAP-Kreisleitung und der Gestapo die Sache selbst in die Hand.
Die Arbeiterinnen hätten ohne jede Hemmungen mit den Gefangenen geliebäugelt, sagte Äckerle 1948. Dies sei Ausdruck eines „animalischen Trieblebens“ gewesen, deswegen habe er sich entschlossen, aus dem „Kreis der Sünderinnen“ einige der markantesten Fälle herauszugreifen.
Marie Wagner berichtete: „In der Fabrik gab Äckerle den Befehl, mit der Arbeit aufzuhören. Er trommelte alle zusammen und beschimpfte uns als Huren, schrie, dass wir keine deutschen Frauen mehr seien und unser Lebtag daran zu tragen hätten. […] Dann wurden die Haare abgeschnitten im Betrieb.“ Äckerle hatte den Frisör bestellt (und vermutlich einen Fotografen, der zur weiteren Publizität die Strafaktion festhalten sollte). „Ich habe damals nicht gebeten, das zu unterlassen, ich konnte nicht sprechen“, sagte sie 1948. Zuerst seien ihrer Kollegin die Haare abgeschnitten worden, dann ihr selbst. „Dann bin ich zusammengebrochen, dann schrie er: ‚Schüttet Wasser auf sie, sie markiert‘, da ging jemand her und hob mich in die Höhe. Die andere Frau nahm mich dann am Arm und hat mich gestützt.“
Und so sieht man sie auf zahlreichen Schwarzweißfotos durch den Ort laufen: Zwei Frauen in den gleichen karierten Jacken, eng aneinander gedrängt, den Blick auf den Boden gerichtet, die kleinere, schmalere Frau hat die größere, kräftigere untergehakt. „Äckerle hatte auch verschiedene Betriebe antelefoniert, damit sie alle auf der Straße sind. Es waren sehr viele Menschen auf der Straße, wie bei einem Festzug.“ Die Fotos belegen: 150, vielleicht 200 Menschen folgten der Prozession, die die Frauen nun anführen mussten – vom Gewerbegebiet einen langen Weg durch die Innenstadt, schließlich an schmucken, zweistöckigen Bürgerhäusern vorbei zum Marktplatz.
„Vom Markt aus sollten wir noch in den Vorort laufen, in dem wir wohnten“, gab Marie Wagner zu Protokoll. Doch dann wurde die ganze Sache sehr schnell abgebrochen. „Es muss ein Soldat von der Front dagewesen sein, der ging zum Oberbürgermeister Franck und hat gesagt, das sei eine Schande“, erklärte sie später das plötzliche Ende der Aktion.
Öffentliche Bloßstellung war im NS-Staat ein häufig angewandtes Mittel, unerwünschtes Verhalten zu sanktionieren. Dem Volk wurde ein Spektakel geboten, Häme und Schadenfreude durften auf offener Straße ausgelebt werden. Das Publikum erlebte sich als Volksgemeinschaft. Zugleich schüchterte man all jene ein, die womöglich geneigt waren, sich ähnlich zu verhalten wie die Gedemütigten.
Die öffentliche Haarschur von Frauen scheint – das legt der Bildband „Vor aller Augen“ nahe – auch andernorts ganz besonderes Interesse bei der Bevölkerung geweckt zu haben. Dies mag daran gelegen haben, dass sich hier ein Ventil fand, den weitgehend tabuisierten Bereich der Sexualität öffentlich zu thematisieren. Die Kleinstadt hatte ihren Skandal. Dennoch ist es schwierig, einzuschätzen, wie breit die Akzeptanz derartiger Aktionen tatsächlich war. Zumindest ein Teil der Zuschauer wurde delegiert. Es hätte Mut gekostet, sich dieser Aufforderung zu entziehen.
Das an sich so unpolitische Vergehen der Frauen hatte in den Augen der Nationalsozialisten durchaus eine politische Dimension. Frauen, die mit Kriegsgefangenen anbändelten, verwischten nicht nur die Grenze zwischen Feind und Freund, zumal wenn es sich um verheiratete Frauen handelte, man sah in ihnen auch eine Gefahr für die Kampfmoral der Truppe.
Die Gerichtsakten geben einen Einblick, wie unbefangen der Kontakt mancherorts zunächst aufgenommen wurde. „Natürlich“, sagte Marie Wagner 1948, „wusste man, dass man mit den Gefangenen nicht reden durfte. Aber wie hätte man das machen sollen, wenn man den ganzen Tag neben ihnen saß, schließlich musste man ihnen auch erklären, was sie machen sollten.“
Die Franzosen ihrerseits suchten den Kontakt zu den jungen Frauen. Einmal habe ein Franzose einer der Frauen, die ihm besonders gefiel, Kekse schenken wollen, gab eine andere Arbeiterin zu Protokoll, als nach zwei anonymen Denunziationen im April 1941 die ersten Verhöre zu dem Verhältnis zwischen den Kriegsgefangenen und den Arbeiterinnen im Betrieb stattfanden. Die französischen Gefangenen konnten offenbar Pakete von zu Hause erhalten und verfügten deshalb manchmal über Kekse oder Schokolade. Der Franzose habe die Kekse in eine Dose getan und diese auf eine Kiste gestellt. Doch vor der Angebeteten fanden die anderen Gefangenen die Liebesgabe und aßen sie auf. Darüber habe der ganze Betrieb sehr gelacht, so die Frau.
Eine andere berichtet von einer Kiste, in die die gesamte Belegschaft Esswaren für die Gefangenen gelegt habe. Jeder habe dies für erlaubt gehalten, sagte sie in der Vernehmung. Erst als Richard Äckerle dies im November 1940 zum Anlass für einen Betriebsappell nahm – man brauche keine Huren im Dritten Reich, soll er die Frauen angeschrien haben –, war damit Schluss.
Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass zwischen den Frauen und den Gefangenen eine gewisse Vertrautheit entstand. Eine der Arbeiterinnen schildert im Verhör 1941, wie dieses Sichnäherkommen aussehen konnte: „Frau Hau (die Mutter von Rolf Hau) und der französische Kriegsgefangene Henry Navin arbeiteten vor einiger Zeit einige Wochen nebeneinander an einer Stanzmaschine. Beide stanzten am laufenden Band. Ab und zu mussten sie für kurze Zeit mit ihrer Arbeit aussetzen. In dieser Zeit unterhielten sie sich. Die beiden haben dann gelacht. Sie konnten gut miteinander.“
Auch eine andere harmlose Szene beschreibt sie. „Einmal sah Frau Hau dem Franzosen Andreas dabei zu, wie er sich in einem spiegelnden Blech betrachtete. Da ging sie zu ihm und fuhr ihm mit der Hand über die Wange.“ Wie die anderen befragten Frauen betont aber auch diese Arbeiterin bei den Verhören, von einem Liebesverhältnis könne gar keine Rede sein, dazu habe es im Betrieb keinerlei Möglichkeit gegeben.
Doch einige Frauen – darunter Marie Wagner und Therese Hau – trafen sich auch nachts mit den Gefangenen. Das gaben sie später beim Verhör durch die Polizei zu, nach dem Krieg haben sie das Geständnis nicht widerrufen. Marie Wagner bestritt jedoch, dass es sich um eine sexuelle Begegnung gehandelt habe. Zwischen ihr und dem Gefangenen habe zunächst eine gewisse Verlegenheit geherrscht, schilderte sie das Treffen bei der Polizei. Doch dann habe der Gefangene sie an sich gezogen, „Marie“, habe er gesagt und angefangen zu weinen. „Der Franzose wurde nicht frech gegen mich, er hat nicht versucht, meine Kleider hochzuschieben oder mich unsittlich zu berühren, er legte nur seinen Kopf auf meine Schulter und weinte“. Ob es so war oder ob sie verzweifelt versuchte, sich selbst und den Gefangenen zu schützen, indem sie ein volles Geständnis verweigerte, muss offen bleiben.
Beide Frauen wurden von einem Sondergericht zu je sechzehn Monaten Haft verurteilt, vierzehn Monate saßen sie ab. Über das Schicksal der Männer ist nichts bekannt. Nach den NS-Rassegesetzen drohten französischen Kriegsgefangenen in der Regel ebenfalls Haftstrafen, polnische und russische Kriegsgefangene mussten dagegen mit Todesurteilen rechnen. Frauen, die mit so genannten Ostarbeitern Kontakt pflegten, erhielten Haftstrafen von bis zu fünf Jahren.
Den Ehemännern der beiden Frauen legte Äckerle persönlich die Scheidung nahe. Während der Mann von Therese Hau darauf einging, war es im Falle von Marie Wagner die Schwiegermutter, die eine Scheidung verhinderte. In seiner ersten Verzweiflung sei ihr Mann auf Äckerles Ansinnen eingegangen und habe einen Rechtsanwalt aufgesucht, berichtete Marie Wagner später. Doch als er zu seiner Mutter gegangen sei und ihr erzählt habe, dass er sich scheiden lassen müsse, sei diese damit keineswegs einverstanden gewesen. „Das kommt überhaupt nicht in Frage“, soll sie gesagt haben. Der Mann nahm die Scheidungsklage zurück. Einige Wochen später wurde ihm auf Betreiben der NSDAP-Kreisleitung die Wohnung gekündigt.
Der Fall von Marie Wagner und Therese Hau ist ungewöhnlich gut dokumentiert, ein Einzelfall ist er indes nicht. Allein in den Akten des für diese beiden Fälle zuständigen Sondergerichts sowie des Landgerichts Ludwigsburg finden sich die Namen von sechzig Frauen, die ebenfalls wegen „fortgesetzten verbrecherischen Umgangs mit Kriegsgefangenen“ verurteilt wurden. Und diese Zahl muss noch als unvollständig betrachtet werden, da die Akten des Sondergerichts bei Kriegsende verbrannt sind und nur teilweise Ersatzakten angelegt wurden. In einer Lokalzeitung findet man während des kurzen Zeitraums von Ende Februar bis Ende Mai 1941 Hinweise auf neunzehn ähnliche Fälle. Nur der kleinere Teil dieser Frauen musste vermutlich das durchmachen, was Marie Wagner und Therese Hau erlebt haben: die öffentliche Bloßstellung und Demütigung. Doch die meisten von ihnen wurden zu Haftstrafen verurteilt.
Unmittelbar nach dem Krieg schien es zunächst, als sollte den Frauen nun Gerechtigkeit widerfahren. Ein Spruchkammergericht stufte die Frauen als Opfer des Faschismus ein. Genutzt hat ihnen das in den folgenden Jahren allerdings nur wenig. Zwar wurde der Eintrag ins Strafregister gelöscht, doch eine Entschädigung für die Haftzeit, für die dabei erlittenen gesundheitlichen Schäden, die Kosten, die ihnen durch Gerichtsverfahren und Wohnungsbeschlagnahmung entstanden waren, haben weder Therese Hau oder Marie Wagner noch ihre zahlreichen Leidensgenossinnen je erhalten.
In allen späteren Verfahren, die sich bis Anfang der 60er-Jahre hinzogen, wurden Entschädigungszahlungen abgelehnt. Stets wurde argumentiert, eine Entschädigung könne es nur bei Verfolgung aus politischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen geben. Die Bestrafung des Umgangs mit Kriegsgefangenen könne dagegen nicht als nationalsozialistische Gewaltmaßnahme gewertet werden.
Der ausbleibenden materiellen Entschädigung entsprach, dass meist auch keinerlei psychische Bewältigung der Vorfälle stattfand. Durch die Haarschuraktionen waren die Frauen öffentlich als Ehebrecherinnen und „leichte Mädchen“ gebrandmarkt worden, ein Makel, der – zumal auf dem Lande – in den 50er- und 60er-Jahren kaum geringer wog als zu Zeiten des Nationalsozialismus. Da die Frauen sich nach gängigen Maßstäben unmoralisch verhalten hatten, entstand nicht wirklich ein Gefühl dafür, dass ihnen in höchstem Maße Unrecht geschehen war.
Sehr deutlich wird diese prekäre Gemengelage von Bewertungen in einem Brief, den der Schwager einer betroffenen Frau an die Wiedergutmachungsstelle schrieb. Die Bäuerin hatte ein Verhältnis mit einem polnischen Kriegsgefangenen gehabt. Während ihrer fünfjährigen Haftzeit hatte sie solche gesundheitlichen Schäden erlitten, dass sie hinterher nicht mehr arbeiten konnte. Da man auch ihr geringes Vermögen gepfändet hatte, war sie völlig mittellos. „Es liegt mir fern, den Straffall meiner Schwägerin zu bagatellisieren“, schreibt ihr Schwager im Jahr 1953 an die bundesdeutschen Behörden. „Ich weiß aber, dass der Fall von der vergangenen Justiz stark übertrieben wurde und dass das Vergehen meiner Schwägerin lange nicht so schlimm war, wie es hingestellt wurde.“
Eine wirkliche Rehabilitierung fand nie statt. Deswegen versuchten viele Frauen zu vergessen und schwiegen, mitunter bis heute oder bis zu ihrem Tod. Trotz der erlebten Demütigungen blieben viele der Frauen an ihren Heimatort gebunden. Auch Henriette Hübner*, die ein ähnliches Schicksal hatte wie Marie Wagner und Therese Hau, kehrte nach ihrer Haftzeit in die Bodenseegemeinde, in der sie aufgewachsen war, zurück, wo sie bis heute lebt.
Die unverheiratete Frau hatte im Lager ein Sieben-Monats-Kind geboren. „Das Schlimmste war, dass man die Leute, die für alles verantwortlich waren, nach dem Krieg ständig wieder getroffen hat“, sagt sie heute. Auch ihre Tochter habe unter dem Vorgefallenen leiden müssen, sie sei in der Schule verspottet worden. Trotzdem gelang es ihr nicht, mit ihrer Tochter offen über die Vergangenheit zu sprechen. Einer Freundin und Leidensgenossin von ihr nahm man das Kind weg. Bis heute weiß sie nicht, was aus ihm geworden ist, sie hat nie versucht, es herauszufinden. Ihre Freundin habe das alles verdrängt und wolle von alledem nichts mehr wissen, sagt sie.
Henriette Hübner selbst hat noch einen anderen Grund, warum sie über ihr Leben in der Öffentlichkeit nicht reden möchte. Sie glaubt einfach nicht daran, dass die Leute im Ort, aber auch anderswo, ihre Geschichte heute anders betrachten könnten als damals, vor über sechzig Jahren. „Viele“, sagt sie resigniert, „denken doch heute immer noch genauso.“
* Namen geändert
KATHARINA SCHULER, geboren 1971, lebt als freie Autorin in Berlin