17. Oktober 1989: Wie bei Kafka
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Gestern waren wieder Tausende Menschen auf der Straße. Zum ersten Mal gab es im Westfernsehen auch Bilder aus Leipzig: eine endlose Menschenmenge, die am Zentrum-Kaufhaus über den Ring in Richtung Hauptbahnhof läuft. Auch diesmal ist es friedlich geblieben. Damit zieht so etwas wie Normalität in die Verhältnisse ein. Heute berichtet das Neue Deutschland das erste Mal über die Demonstration – auch wenn es nur eine zwölfzeilige Meldung ist.
In Berlin ist endlich wieder demonstriert worden. Ich habe es leider auch nur aus dem Fernsehen erfahren. Ich will etwas tun und weiß doch nicht genau, wie ich es anstellen soll. Ich bin unzufrieden mit mir.
Dabei habe ich eigentlich andere Sorgen. Wenn man schon einen Brief an Mielke schreibt, muß man ihn auch abschicken. Wie schickt man einen Brief an den Chef der Stasi? Einfach mit der Post? Wir beraten im Freundeskreis und verfallen auf eine Doppelvariante. Einerseits wird er ganz normal als Eilbrief aufgegeben.
Andererseits denken wir uns: Wenn wir schon bespitzelt werden, ist es jetzt langsam an der Zeit, daß diese Spitzel auch was für uns tun. Wir lancieren den Brief also so, daß wir sicher sein können, daß der bei der Beobachtung des Schriftstellerverbandes für junge Literatur zuständige Offizier des MfS ganz sicher unseren Brief in die Hände bekommt. Auf diese Weise in den Apparat hineingegeben – so denken wir uns das –, wird er schon an die zuständige Stelle geraten.
Eigentlich verspreche ich mir von dem ganzen Aufwand nichts mehr. Warum soll man mit Tauben telefonieren oder Blinden Briefe schreiben? Mich erinnert das ganze Verfahren an Franz Kafkas „Prozeß“. Die Alpträume sind jetzt lebendig geworden. Wolfram Kempe
Unser Autor ist Schriftsteller und Publizist. Er lebt in Berlin.
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