piwik no script img

■ Wie Ungarn zu einem Teil der Festung Europa wirdDie Bastion

Am Anfang war der Parteistaat. In den achtziger Jahren blickte der ungarische Bürger auf der Heimfahrt von seinem Wochenendgrundstück aus dem Fenster seines Ladas oder Wartburgs zum rötlichen Sonntagabendhimmel und dachte seufzend: Das Leben ist fast schön, wir leben fast wie Menschen (also wie Westeuropäer), wenn wir nur ungefähr so viel verdienten wie sie und – wie sagt Radio Freies Europa heutzutage – auch Menschenrechte hätten!

Der Westen stellte sich dem Sowjetkommunismus gegenüber als Bastion der Freiheit und der Menschenrechte dar. Eine hinterlistige Metapher. Der politisch ausgelieferte Bürger des Parteistaats sehnte sich mit wechselnder Intensitiät nach den Menschenrechten. Den anderen Teil der Metapher, die Bastion, konnten wir ignorieren, denn mit Bastionen waren wir gut ausgestattet; nach einem Spruch aus Stalin-Zeiten waren wir sogar selbst eine Bastion, und zwar an der Front des Friedens.

Die Wende beschenkte uns dann tatsächlich mit etlichen nagelneuen Menschenrechten und Freiheiten – aber diese Freiheit bringt auch Probleme mit sich. Wer auswandern will, findet meistens keinen Ort, wohin er gehen könnte, da nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die andere Hälfte der Metapher – die Bastion – ein Eigenleben begonnen hat. Der Westen hat einen anderen Gegner für sich gefunden, einen überaus realen: die Armut, die nach Kompensation drängt. Jetzt tritt der Westen gegenüber dem restlichen Teil der Welt als eine Festung auf, in deren Mauern er die Freiheit und die Menschenrechte hütet, wobei er beinahe schon so auf die aufpaßt, als läge ihm am Herzen, daß sie sich nicht ausbreiten. Wer sich anschließt, der muß weniger die Menschenrechte respektieren als vielmehr die Festung. Wir sollen uns nicht für Wilhelm Tell begeistern, sondern für Manfred Kanther.

Vor einigen Wochen bekam ich mit ein wenig Verspätung eine Presseerklärung mit Datum vom 10. August aus Berlin zugefaxt. Drei Berliner Organisationen, die Antirassistische Initiative, die Forschungsgesellschaft Flucht und Migration und der tamilische Verein Pathhai, ließen mich wissen, daß gemäß Beschluß des Budapester Büros des Hohen Flüchtlingskommisssars der Vereinten Nationen (HUN/HCR/MISC/0844) diejenigen Srilanker – Tamilen und Singhalesen gleichermaßen –, 19 an der Zahl, die es nicht geschafft hatten, im Höllencontainer eines Lastwagens zwischen dem Balkan und Györ wie ihre 18 Gefährten zu ersticken, über Bulgarien nach Colombo abgeschoben worden waren. Ein Stempel in ihren Pässen besagt, daß sie zwei Jahre lang ungarisches Territorium nicht betreten dürfen, und falls ihnen später doch nach einem solchen Besuch zumute ist, haben sie die Abschiebungskosten zu erstatten, ungefähr 1.200 Dollar pro Kopf.

Die Martin-Luther-King-Vereinigung in Ungarn und die Menschenrechtsorganisationen, von denen die Presseerklärung stammt, haben die Gefangenen zweimal in einem Internierungslager bei Györ besucht und dort „katastrophale und unmenschliche Haftbedingungen“ festgestellt. Es heißt, „die überlebenden Tamilen und Singhalesen wiesen auch Symptome von großer Ernährungsschwäche auf“, als sie zum ersten Mal besucht wurden. Beim zweiten Mal, am 5. August, wurde ein allgemeiner Bericht über das Internierungslager für Ausländer abgefaßt, 88 Internierte in drei stinkenden Zellen. In der einen 29 Doppelstockbetten, dazwischen Abstände von Zentimetern. „Die Matratzen sind aufgeplatzt, die Gestelle schrottig.“ An Fenstern und Türen sowie auf den Gängen Gitter. Bewacht wird das Gebäude vom Grenzschutz. Demgegenüber erklärt der zuständige Beamte des Innenministeriums – und ich glaube ihm –, die Unterbringung dort sei genauso wie bei den Soldaten unseres Grenzschutzes. Zugegeben, manchmal kommt es zu einer Überbelegung, denn mitunter werden 30 bis 50 Prozent am Tag geschnappt. Aber die Unbequemlichkeiten sind nicht von Dauer, da „die meisten festgenommenen Grenzverletzer im allgemeinen binnen 24 Stunden an die Behörden eines der Nachbarländer zurückgegeben werden“. Mir gefällt das sehr. Es ist, als ob die Zensur durch die Auflösung der Verlage beseitigt würde. Obendrein sind die Flüchtlinge aus den außereuropäischen Ländern vollständig entrechtet, denn „neben Malta ist Ungarn das einzige europäische Land, das die Genfer Konvention nicht in den entsprechenden Teilen unterzeichnet hat“.

Vorher hatte ich gelesen, daß einige Schuldige an dem Massenmord – ich verwende nicht das Wort „Menschenhändler“, weil es sie unverdient in ein schönes Licht rücken würde – in Bulgarien verhaftet wurden; nun überlegte ich, warum man die Überlebenden des Verbrechens und natürlichen Zeugen des geplanten Prozesses durch Gesetzeskraft aus Europa wegbringt. Im ersten Augenblick erklärte ich mir diese Widersinnigkeit – kraft einer alten Gewohnheit – damit, daß die zuständigen Beamten vermutlich debil, imbezil oder Idioten sind. Doch die Presseerklärung, die unter Berufung auch auf ungarische Beobachter den Abschiebungsbeschluß einer deutschen und österreichischen Initiative zuschreibt, regt meine Phantasie zu schlimmeren Vorstellungen an. Daß die Zeugen absichtlich aus dem Weg geräumt werden sollten, damit die Wahrheit über die Beschaffenheit der Grenzen, die Westeuropa schützen, nicht herauskommt. „In der Massenabschiebung der 19 Überlebenden nach Sri Lanka sehen wir einen barbarischen Akt der Schengen-Staaten und der ungarischen Regierung. Wir protestieren gegen den Export des Abschiebesystems, gegen die sich ausweitende organisierte Unmenschlichkeit der Festung Europa“, so endet die Presseerklärung.

Freilich, die Aktivisten der Menschenrechtsorganisationen haben es leicht: Sie sind nicht in der Regierung. Sie müssen sich nicht mit der Frage herumschlagen, was sie für 19 Tamilen und Singhalesen bekommen können. Was sie bekommen können, wenn sie beweisen, daß Ungarn wieder eine starke Bastion ist – an der Front von was? An der Front der europäischen Kultur und des Humanismus natürlich. Für die Position muß auch eine demokratische Regierung Opfer bringen. Zu Zeiten des Parteistaates haben wir die Menschenrechte gelernt, um uns den westlichen Demokratien annähern zu können. Jetzt müssen wir so manches von dem Gelernten vergessen, und zwar zum selben Zweck. Auch ich überwinde meine Empörung und meinen Abscheu. Ich hänge diese grausame Geschichte an die große Glocke, um für unseren guten Ruf bei denen zu werben, denen wir gefallen möchten. István Eörsi

Aus dem Ungarischen

von Hans Skirecki

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen