: Wider die US-Hegemonie
Dem amerikanischen Neo-Imperialismus sollte man zunächst einen deutschen, dann einen europäischen Neo-Neutralismus entgegensetzen – zum Wohl der Weltgesellschaft
Der angekündigte Krieg gegen den Irak ist völkerrechtswidrig und wird eine humanitäre Katastrophe zur Folge haben: Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat errechnet, dass im Falle eines Angriffs eine halbe Million irakischer Zivilisten direkt Schaden nehmen könnten; zudem würden weitere 400.000 Menschen ärztliche Hilfe benötigen und etwa eine Million in angrenzende Nachbarländer fliehen. Man mag aus der Erfahrung ähnlicher Waffengänge hochrechnen, wie viele Tote sich am Ende unter den Verletzten finden werden.
So prekär historische Vergleiche sind, so sehr gilt doch, dass eine völkerrechtliche Zustimmung der von Rot-Grün getragenen Regierung zum Krieg für das 21. Jahrhundert in etwa dasselbe bedeuten dürfte, was die sozialdemokratische Zustimmung zu den Kriegskrediten im Ersten Weltkrieg bedeutet hat. Das Zarenreich galt aufgeklärten Köpfen 1914 als ähnlich verdammenswert wie heute der Irak. Bei alledem geht es nicht um den erwartbaren Verlust moralischer Unschuld, mit dem jede Politik gelegentlich leben muss, sondern um das buchstäbliche Verfaulen der Prinzipien, mit denen Teile der regierenden Linken noch immer um Wählerstimmen buhlen. Egal, ob es sich um die Verteilungsgerechtigkeit der SPD oder um die nur angeblich komplexer angelegte Geschlechter- und Generationengerechtigkeit der Grünen handelt – beide Parteien würden sich im Falle des von Deutschland legitimierten qualvollen Todes von Tausenden im Irak als unglaubwürdig erweisen.
Moralisch gesehen besteht gewiss ein zwar instruktiver, aber für dieses Problem nicht wesentlicher Unterschied zwischen der Ausführung einer Tötungshandlung hier und ihrer Legitimation dort. So würde ein einzelner US-Pilot, der Bomben auf bevölkerungsreiche Viertel in Bagdad wirft, kaum mehr Schuld auf sich laden als Regierungen, die eine zweite Resolution nicht für nötig halten und glauben, sich klüglich auf die Rechtmäßigkeit der Resolution 1441 berufen zu können.
Tatsächlich ist der Wortlaut der Resolution 1441 ambivalent und spricht nicht für sich, weswegen alles auf ihre Auslegung ankommt. Indem die Bundesrepublik eine zweite Resolution erklärtermaßen zwar für wünschenswert, aber nicht für nötig hält, unterstützt sie die aktuelle amerikanische Rechtsauffassung. Diese aber stellt einen grundlegenden Bruch allen bisherigen Völkerrechts dar – wie der Göttinger Jurist Georg Nolte soeben überzeugend gezeigt hat – und läuft auf nichts anderes hinaus als auf eine Weltordnung, in der die Wahrung der Menschenrechte vom absoluten Prinzip zum Spielball machtopportuner Kalküle herabgestuft wird.
Die deutsche Regierungslinke steht in diesem Winter am Scheideweg. Sie muss sich entscheiden, ob sie des einen oder anderen abgeschalteten AKWs, des Dosenpfandes oder einer in Promille bemessenen Erhöhung des Entwicklungshilfeetats wegen willens ist, den letzten Rest an Glaubwürdigkeit und moralischem Kapital zu verschleudern. Während der zweite Golfkrieg 1991/92, die Einsätze in Bosnien und im Kosovo oder der „Krieg gegen den Terrorismus“ wenigstens noch echte politische und moralische Dilemmata darstellten, ist der gegenwärtig geplante Krieg politisch und moralisch eindeutig inakzeptabel.
Daher käme derzeit alles darauf an, das selbst gezimmerte Gehäuse der Hörigkeit zu verlassen, sich der selbst verschuldeten Unmündigkeit zu begeben und die Blockade der außenpolitischen Fantasie aufzuheben. Diesem Gebot der Stunde zum Trotz stehen die Kritiker einer Kriegslegitimation weitgehend sprach- und ratlos da. Haben sie doch im Zuge der Gouvernementalisierung von Parlament und Parteien die eigene außenpolitische Kompetenz an Außenministerium und Kanzleramt delegiert und auf die Entwicklung eigener Konzepte verzichtet. Solche Konzepte lassen sich indes in Umrissen entfalten. Politisch ernst genommen, könnten sie die weitere Integration in das von der gegenwärtigen US-Administration gewünschte System eines nicht nur ökonomischen, sondern auch politischen Neo-Imperialismus zumindest bremsen.
Eine Gerechtigkeit auch nur anstrebende Weltordnung ist bis auf weiteres ohne die Eindämmung der US-amerikanischen Hegemonie nicht denkbar. Dem amerikanischen Neo-Imperialismus wäre daher ein zunächst deutscher, dann hoffentlich europäischer Neo-Neutralismus entgegenzusetzen, an dem neu ist, dass es ihm nicht wie bisher um Äquidistanz zu zwei Großmächten, sondern um die deutliche Distanz zu der einen, verbliebenen Supermacht um des Gemeinwohls der Weltgesellschaft willen geht.
Die ersten Schritte dieses Neo-Neutralismus bestehen in folgenden – mit den EU-Verträgen weitgehend kompatiblen – Maßnahmen: So könnte die Bundesrepublik Deutschland erstens, wie einst De Gaulles Frankreich in den Sechzigerjahren, ihre Mitgliedschaft im militärischen Teil der Nato ruhen lassen und zweitens die im Rahmen der Nato sowie durch bilaterale Übereinkünfte getroffenen Stationierungsverträge ebenso überprüfen, wie die USA das derzeit bei anderen zwischenstaatlichen Verträgen tun. Ziel neuer Verhandlungen muss eine strikte Bindung der in Deutschland stationierten US-Truppen an das grundgesetzliche Verbot eines Angriffskrieges sein. Sollten die USA – wie gelegentlich angedroht – dem nicht nachkommen wollen und ihre Truppen abziehen, ist der Schaden gering: Schließlich ist Deutschland, wie von allen Regierungen seit 1989 glaubwürdig und überzeugend verkündet, nur noch von Freunden umgeben.
Damit erübrigen sich drittens auch Überlegungen, ob eine Wehrpflichtarmee beibehalten werden soll oder eine Berufsarmee einzuführen ist. Nötig ist weder das eine noch das andere: Ein Land, das nur noch von Freunden umgeben ist, bedarf eines stehenden Heeres ebenso wenig wie einer Berufsarmee. Die kategorisch gebotene Aufgabe, den Terrorismus rechtsstaatlich zu bekämpfen, kann eine waffen- und vor allem nachrichtentechnisch auf den letzten Stand gebrachte Bundespolizei, zu der gewiss auch Kommando- und Flugeinheiten gehören, allemal besser erfüllen. Was schließlich die weltinnenpolitischen Aufgaben humanitärer Interventionen im Falle von Genoziden bzw. von „Peacekeeping“-Missionen betrifft, wird es viertens künftig darum gehen, den UN die Aufstellung einer eigenen, keinem nationalen Kommando mehr unterstehenden Truppe zu ermöglichen.
Wenn der Wahlspruch: „global denken, lokal handeln“ jemals den mindesten Wahrheitsanspruch hatte, dann jetzt: Wer den von der Bush-Administration geplanten Krieg im Sicherheitsrat durchwinkt, besiegelt damit nur, dass ihm jene Welt, die doch „für unsere Kinder“ bewahrt werden soll, kaum mehr gilt als das Papier, auf dem der gängige Spruch gedruckt ist. MICHA BRUMLIK