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Whisky und Wrestling gegen den Brexit. Und Grillen in einer Mariendorfer LaubeDen Scheiß verarbeiten

Ausgehen und Rumstehen

von Linda Gerner

Es ist wirklich alles sehr schlecht“, echot Timothy Snyders amerikanischer Akzent in meinem Kopf, als ich am Freitagabend nach Prenzlauer Berg radele. Der Historiker und Holocaustforscher hatte am Mittwoch beim Literaturforum im Brechthaus über sein Buch „Über Tyrannei. 20 Lektionen für den Widerstand“ und über Trump gesprochen. Er ließ keinen Zweifel daran, wie sehr ihn die politische Lage in seiner Heimat besorgt. Snyders Worte noch im Kopf, komme ich beim Freitagabendprogramm an. Dabei steht eine andere Wahl aus dem Jahr 2016 im Fokus, die ebenfalls knapp und schockierend endete – das Brexit-Voting vor einem Jahr. Eine Performance im Ballhaus Ost will den Brexit entdämonisieren.

Das Ritual soll uns helfen, „diesen Scheiß zu verarbeiten“, heißt es, doch die erste Nervosität macht sich beim pünktlichen Publikum bereits breit, als wir um kurz nach acht noch nicht irgendwo bequem sitzen, sondern im Hof darauf warten, dass irgendwas beginnt: „Aber auf den Karten steht doch 20 Uhr?“ Fünf Minuten später sagen uns drei britische Schauspieler, dass das Konzept in neun Tagen entstand und wir uns dabei unwohl fühlen werden.

In drei Gruppen aufgeteilt betreten wir verschiedene Zimmer und ich erinnere mich an ihre Worte, als es im ersten Raum muffig riecht und an der Wand „You need to transform yourself for the ritual. You have 20 minutes“ steht. Wir können Schminke, Tücher, Glitzer und „some disgusting fluffy stuff“ verwenden. Ich wickele mir bunte Tücher um Hals und Hüfte und widme mich danach lieber dem British Tea und Apple Crumble. Den hat die Gruppe extra für uns gemacht, sagt Schauspieler Richard Aslan. Das muss honoriert werden. Die 13 anderen Menschen nähern sich zunächst zaghaft, dann voller Elan dem Bastelzeug, probieren Perücken auf, kleben sich falsche Wimpern an und entwerfen sogar mit Schere, Papier und Tacker ganze Kostüme. Aus den anderen Räumen hören wir immer wieder Johlen und laute Musik.

„Brexit, Brexit“, skandiert sie

Irgendwann dürfen auch wir, völlig transformiert, weiterziehen. In einem Zustand, der sich nach Delirium anfühlt – die Luft bleibt gleichbleibend schlecht –, wird verhandelt, zerschnitten und dann gewrestelt. Zwei Personen, die Großbritannien und die EU verkörpern, liegen sich zwei Minuten lang in den Armen. Eine dritte Person – der Brexit – versucht sie zu trennen. Es finden sich tatsächlich einige Freiwillige und so wird sich die nächsten Minuten auf dem Boden gewälzt. Später sind wir alle wieder draußen im Hof. Es gibt Whisky und wir trinken auf „people who have been left behind“. Der Whisky ist stark, einige keuchen. Dankbar schleudern wir die zweite Runde auf die wrestelnden Performer, während wir rasselnd und lärmend um sie herumstehen. Ist schließlich ein Ritual.

„Brexit, Brexit“, skandiert ein Mädchen mit Glitzer im Gesicht neben mir. Mir ist der Schauspieler Chris Gylee, der grade für einen harten Brexit ringt, auch sympathisch. Der Sprechgesang irritiert mich dennoch. Ich verlasse den Hinterhof, es riecht nach Gras und ich erschrecke mich: Mein Fahrrad ist weg. Es steht dann doch eine Laterne weiter vorne. Der Whisky war stark.

Am Samstag folgt mein erstes Mal. Ich betrete zum ersten Mal einen waschechten Schrebergarten. R. und H. können diese wild blühenden Quadratmeter in Berlin-Mariendorf samt Hütte mit Vogelbildern und Schnapsgläsern seit zwei Jahren ihr eigen nennen. Wir grillen, diskutieren über Vorgaben vom Gartenbauamt und Trumps Fake News. Den Brexit thematisieren wird nicht. Vielleicht, weil er selten im Wrestling errungen wurde, oder habe ich den Scheiß schon verarbeitet? Ich sitze in der Hollywoodschaukel im Grünen, beiße in einen gefüllten Champignon und finde: Nicht alles ist schlecht.

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