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■ Weshalb die Japaner nicht „normal“ werden wollenScham währt länger als Sühne

Ist Deutschland in diesen Tagen „erwachsen“ geworden, und bleibt Japan ein Kind? Trennen sich die Wege der beiden Verlierermächte des Zweiten Weltkriegs beim Schritt zur „Volljährigkeit“? Zur gleichen Zeit, als Bundesverfassungsgericht und Bundestag in den letzten Tagen Deutschland als Staat unter Staaten mit einer frei verfügbaren Armee einreihten, entschied sich Japan, Sonderfall zu bleiben. Die Regierungsparteien in Tokio machten es an diesem Wochenende sogar amtlich: Auf Drängen ihrer sozialdemokratischen Koalitionspartner entschied sich jetzt die Führung der „Liberaldemokratischen Partei“ (LDP), auf Forderungen nach Verfassungsänderungen gänzlich zu verzichten.

Jahrelang hatte die konservative LDP diese Entscheidung hinausgezögert. Nun aber steht fest: der generelle Gewaltverzicht in Artikel 9 der japanischen Verfassung bleibt auf absehbare Zeit erhalten. Japan wird vorerst weder Weltpolizist noch Hilfssheriff sein. Mag auf der koreanischen Halbinsel ein Krieg ausbrechen oder die chinesische Armee die Transportwege durch das Südchinesische Meer schließen: japanische Soldaten dürfen nicht zum Einsatz kommen, deutsche dagegen nun auch in Asien sehr wohl.

Es liegt besonders den angelsächsischen Kommentatoren nahe, in Deutschlands neuen Militäroptionen den verdienten Lohn für Reue und Schuldbewußtsein zu erkennen. Waren die Deutschen nicht 50 Jahre lang die besseren Büßer? Den Japanern hingegen will bis heute niemand richtig über den Weg trauen. Schließlich huldigten sie noch bis vor wenigen Jahren dem gleichen Kaiser, der sie in die Verbrechen des Krieges führte. Hatten die Japaner den schlimmsten Völkermord, begangen von ihren Truppen im Winter 1937 im chinesischen Nanking, je so offen und selbstkritisch reflektiert wie die Deutschen Auschwitz? Nein, zum Erlangen der Volljährigkeit fehlte den Japanern aus Sicht ihrer Partner das richtige (deutsche) Sühnebewußtsein. Für Europäer, Amerikaner und Asiaten gleichermaßen hat sich die Tokioter Regierung in realistischer Einschätzung des ihr entgegengebrachten Mißtrauens für die weitere Enthaltsamkeit in militärischen Belangen entschieden.

Die Japaner können ihr Vorgehen so freilich nicht rechtfertigen und fühlen sich mißverstanden. Wenn Nanking tabu sei, wäre das nur ein Zeichen für die peinliche Berührung der Nation. Schuldbewußtsein sei in diesem nicht christlichen Land keine begreifbare Tugend, das verstecktere und viel unzugänglichere Schamgefühl hingegen allgegenwärtig. Die japanische Nation habe im Zweiten Weltkrieg „das Gesicht verloren“, lauten die Erklärungen. Schlimmeres könne nicht passieren, deshalb schweige man lieber. Insofern verstünde sich auch die militärische Verzichtsentscheidung quasi von selbst: als politisches Willensbekenntnis einer „friedensliebenden Nation“ (Premierminister Murayama).

Niemand hat diese konfuzianischen Arien bislang ernst genommen – sie erschienen dem Ausland meist nur als Deckmantel einer ansonsten aggressiven japanischen Handels- und Wirtschaftspolitik. Doch heute verlangen nicht Worte, sondern Taten nach einer neuen Erklärung. Warum verzichten die Japaner allen Ernstes auf ihre militärische Option, wo die Ordnung des Kalten Krieges in Asien derzeit genauso zerbricht wie in Europa und ein Kim Jong Il auch noch mit Atomwaffen droht? Einwände aus dem Ausland können die zweitgrößte Wirtschaftsmacht derzeit wohl kaum von Verfassungsänderungen abhalten, wenn diese als politisch notwendig erkannt werden.

Tatsächlich war die LDP lange Zeit bereit, Artikel 9 zu beseitigen. Scheute sich die Partei doch auch nicht, ehemalige Kriegsverbrecher zu Premierministern zu machen. Für Verfassungsänderungen fehlte ihr nur die nötige Zweidrittelmehrheit. Heute aber zwingt Japans erste „große Koalition“ zwischen Liberaldemokraten und Sozialdemokraten beide, statt der Gegensätze ihren Konsens zu definieren. Dazu gehört nun der Erhalt einer defensiven „Selbstverteidigungsarmee“, der die Sozialdemokraten erstmals ihre Verfassungskonformität zugestanden. Die LDP lenkte indessen nur ein, weil sie sich (genauso wie die Sozialdemokraten) von einem innenpolitischen Ballast befreien wollte. Offenbar waren die Liberaldemokraten nach vierzig Jahren praktizierter Verfassungskritik zum Schluß gekommen, daß ihre Politik in der Bevölkerung einfach nicht ankam.

Vielleicht erscheint damit auch der japanische Umgang mit der eigenen Vergangenheit langfristig in einem neuen Licht. In der abendländischen Geschichte gibt es unzählige Beispiele, in denen Verbrechen erst begangen, dann gebeichtet und schließlich wiederholt wurden – meist lieferte der Papst den passenden Moralkodex. In der japanischen Tradition aber kann Schuld nur bestraft und nie getilgt werden. Jeder Gesichtsverlust ist total. Insofern mögen die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in Japan lebendiger sein, als viele bisher annahmen – gerade aufgrund des bislang ungünstiger ausgefallenen Vergleichs mit Deutschland. Georg Blume, Tokio

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