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Archiv-Artikel

nebensachen aus delhi Werteverfall im Cricket-Stadion

Kaum eine Sportart ist den Menschen in Indien so heilig wie Cricket. Eigentlich ist das Spiel ein Überbleibsel von 400 Jahren kolonialer Fremdherrschaft durch die Briten. Doch egal: Wenn das indische Nationalteam, dessen Spieler verehrt werden wie Nationalhelden, gegen eine andere Nationalmannschaft antritt, sind schnell etliche Straßen in Indiens Städten menschenleer.

Gerade erst haben die ersten Spiele der neu gegründeten Indian Premier League begonnen – und schon gibt es den ersten großen Skandal um Indiens Nationalsport. Denn manche der Mannschaften haben Cheerleaders aus den USA und Australien angeheuert, um die Spiele noch ein wenig mehr zu einem Spektakel zu machen.

Die Folge: eine Debatte über den Werteverfall. Denn umgehend meldeten sich hindunationalistische, muslimisch-orthodoxe und linksextreme Gruppen und protestierten, die indischen Werte würden mit Füßen getreten, wenn spärlich bekleidete Westlerinnen vor den Zuschauern auf und ab hüpften.

Vergangene Woche wurde eine Gruppe Tänzerinnen gezwungen, bei einem Spiel in Bombay blaue Trainingsanzüge zu tragen. Die ultranationalistische Hindupartei Shiv Sena, die in Bombay das Sagen hat, hatte mit Konsequenzen gedroht. Einen ähnlichen Aufschrei hatte es bei einem Spiel der Kolkata Knight Riders, der Mannschaft des indischen Kinohelden Shah Rukh Khan, in Kalkutta gegeben. „Das ist nicht unsere Kultur“, sagt Sudeep Banerjee, der einer linken Gruppe mit dem Namen Forward Bloc angehört. Die Indische Premier League solle klassische indische Tänze in den Spielpausen vorführen. Außerdem stünden Cheerleader-Tänze für die Ausbeutung der Frauen.

Damit nicht genug. Die Debatte ging bis ins Landesparlament des Bundesstaates Westbengalen. Ein Shiv-Sena-Abgeordneter verlangte die Abschaffung der Cheerleaders. „Sie bringen Obszönitäten in ein Spiel, das von allen Familienmitgliedern angeschaut wird.“ Daraufhin durften die Tänzerinnen der Knight Riders nur noch in „verhüllender“ Kleidung antreten.

Einen größere Moraldebatte gab es nur noch um den Schauspieler Richard Gere. Der hatte im vergangenen Jahr bei einer Aidsgala in Delhi die Bollywood-Darstellerin Shilpa Shetty vor laufenden Kameras umarmt und sie mehrmals auf die Wange geküsst. Der Aufschrei war enorm: Ein Gericht in Jaipur erließ umgehend Haftbefehl gegen Gere wegen „obszönen Verhaltens“, der von einem höheren Gericht sofort kassiert wurde. Wieder liefen Fanatiker aller Lagern Sturm gegen dieses „unsittliche Benehmen“, manche forderten gar eine hohe Haftstrafe. Der Schauspieler rechtfertigte sich zunächst, entschuldigte sich dann aber für sein Verhalten.

Dennoch gingen im ganzen Land Anzeigen gegen Gere ein. Der Fall ging von Gericht zu Gericht. Vor wenigen Wochen nun sprach das Oberste Gericht Gere frei und erklärte, er sei „mehr als willkommen“, jederzeit wieder nach Indien zu reisen. Gere gab danach zu, dass er wohl einen Schritt zu weit gegangen und dass es eine „kranke Aktion“ gewesen sei. Über Indien sagte er: „Es ist eine sehr komplexe Gesellschaft.“ SASCHA ZASTIRAL