: Wer stirbt?
An politischen Entscheidungen hängt nicht nur die Frage, wie wir leben wollen, sondern auch, wer dafür sterben muss
Verhandeln ist essenziell für die Demokratie, genauso wie für den Kapitalismus. Solange wir verhandeln, funktioniert das System. Es ist Zeichen für eine vitale intakte Gesellschaft, an einem Tisch zusammenzukommen, sich aufeinander einzulassen und einander zuzuhören.
Doch wie soll eine Verhandlung funktionieren, wenn die Machtpositionen immer weiter auseinanderdriften? Wenn Ressourcen wie Zeit, Geld, Sicherheit und Einfluss so ungleich verteilt sind, dann wird aus einer Verhandlung eine Erpressungstaktik. Denn während die mächtige Seite bei Vertragsbruch tatsächliche Sanktionen einsetzen kann, muss die ärmere Seite sich einfach darauf verlassen, dass sich die anderen an die Abmachung halten. Und eines ist mittlerweile klar: Das tun sie nicht.
Wie sonst lässt sich das Verhalten großer Ölkonzerne erklären, die ihre Klimaziele immer wieder platzen lassen? Oder wie lässt sich ein Asylkompromiss im Angesicht von Menschenrechten rechtfertigen, wenn er bedeutet, dass Geflüchtete – Erwachsene wie Kinder – in Lager gesperrt werden, wenn sie in der EU ankommen? Es ist unmöglich, mit Menschen einen Kompromiss zu finden, die das Problem verdrängen. Anstatt über Lösungsansätze wollen Leute über die Realität verhandeln. Genauso unmöglich ist es, von Menschen zu verlangen, dass sie ihre Menschlichkeit aushandeln.
Doch nichts weniger will man von den Vulnerabelsten dieser Welt. Damit sich der Westen seine Geschichte über Freiheit weiter erzählen kann, blendet er eine Sache aus, die ihm mittlerweile immer mehr ins Gesicht springt: den Tod. Verhandlungen klingen nämlich gut, wenn wir es bei der Frage belassen, wie wir leben wollen. Doch wie soll man in eine Verhandlung gehen, wenn es für die einen um Lebensgestaltung und für die anderen um Leben an sich geht?
An politischen Entscheidungen hängt nicht nur die Frage, wie wir leben wollen, sondern auch, wer dafür sterben muss. Eine Entscheidung gegen Seenotrettung mag vielleicht hinauszögern, dass wir unser Leben umgestalten müssen. Doch es ist auch die Entscheidung, Menschen sterben zu lassen. Wie soll die Frage, wessen Tod wir in Kauf nehmen, demokratisch gelöst werden? Und immer wieder heißt es, wir können nicht alle retten. Doch wir wissen genau, dass viel mehr Menschen überleben könnten, wenn wir uns verändern würden. Ich weiß, Veränderung ist schwer. Identitätskrisen sind hart. Doch sie sind nicht so hart wie der Tod.
Immer noch denken viel zu viele, dass nur woanders gestorben wird. Doch die Demokratie schafft sich ab, wenn wir Menschenleben unterschiedliche Wertigkeiten zuschreiben. Was also tun? Bevor man diese grausame Verhandlung weiterführt, würde ich lieber über die Option sprechen, diejenigen, die das Leben anderer missachten, die sich jeglichem Verzicht verweigern, vom Verhandlungstisch auszuschließen. Zum Beispiel durch ein AfD-Verbot. Es sind harte Zeiten, wenn man demokratische Prozesse unterbrechen muss, um die Demokratie zu retten. Doch ein AfD-Verbot würde niemanden umbringen. Aufgrund der Umsetzung rechter Politiken sterben Menschen bereits heute.
Als Journalistin, Autorin und Podcasterin hat Hasters mit ihrem Bestseller „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ den Diskurs über Alltagsrassismus geprägt. Für ihre aufklärerische Arbeit wurde sie mehrfach geehrt. Gemeinsam mit Maximiliane Häcke macht sie den Podcast „Feuer & Brot“. 2023 erschien ihr Buch „Identitätskrise“ bei hanserblau.
Alice Hasters
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