PETER UNFRIED über CHARTS : Wer steht auf und rettet Deutschland?
Tagebuch eines 40-Jährigen: Man ahnte ja, dass das Altwerden nicht einfach würde. Aber dass es so schwierig wird?
40-Jährige lebten ein unbeachtetes, privates, hedonistisch-individualistisches Versagerleben. Jetzt sollen sie plötzlich Deutschland und die Welt(märkte) retten. Und die wirklich relevanten Werte rekonstruieren und leben. Wird das was? Tagebuch eines 40-Jährigen.
Ohne einen besonderen Grund oder Plan ging ich an einem Tag im April zu meiner Plattensammlung und kramte Manfred Mann’s Earthband heraus. Seither läuft das in der Super-Heavy-Rotation. „Blinded by the Light“, „Spirit in the Night“ und so weiter. Sowie selbstverständlich komplett die beiden LP-Großwerke der späten 70er: „Watch“ und „Angel Station“. Selbst die Kinder sind genervt und kritisieren vehement meinen angeblich „konservativen“ und „erstarrten Kulturbegriff“.
Ich sage: „Kinder, stellt euch vor: In diesem Frühjahr ist es genau 25 Jahre her, seit ‚Angel Station‘ erschienen ist. Da muss man doch prüfen, ob es den Test of time bestehen kann.“
Ich setze ja dann immer gerne an zu einem Grundsatzreferat über die Kunst Mann’s, die Klassiker von Springsteen und Dylan inhaltlich entleert und damit auf die Bedeutung der Melodie konzentriert zu haben.
Die Kinder kritisieren dann immer meine „kindische Begeisterung für die Oberfläche“ .
Ich sage: Kinder, hört euch mal Manfreds Version von Dylans „You Angel You“ an. Das ist großer Pop. Das hat doch auch einen Wert.
Silence. Roaring Silence. Ich bin allein auf diesem Planeten.
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Letzte Woche erschien mir, wie ein Geist in der Nacht, der Historiker Paul Nolte (40, „Generation Reform“). Er hat ja grade ein größeres Projekt am Start, die Rettung Deutschlands. Durch die 40-Jährigen. So hieß er auch mich, Eigenverantwortung zu übernehmen, dem Konsumhedonismus abzuschwören, die Massenkultur zu geißeln und die Renaissance der „bürgerlichen Werte“ voranzubringen. Ich war selbstverständlich geschmeichelt, dass ich mitmachen sollte. Gab ihm aber keine feste Zusage und dachte versonnen daran, wie Roger Willemsen bei Anke Lehtnait prustend von einem Mann erzählte, der eine Kuh penetrierte. Was wollte der letzte Bürger der Gesellschaft damit sagen? War das der antibürgerliche Reflex eines Spätrevoltierenden? Oder Ausdruck des Niveaus der Anke-Show bzw. der Popkultur? Oder ironische Kritik an den Zuständen und der entpolitisierten Spaßgesellschaft? Schlimm genug, dass ich keine Ahnung habe. Noch viel schlimmer: Ich fand Willemsen klug und lustig.
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Gestern kamen die Kinder aus der Kita und brüllten. Und zwar ausgerechnet in die Stelle der Singleversion von „Davy’s on the Road again“ hinein, wo der Frauenchor singt. Sie wissen schon: „Davy’s on the ro-o-o-ad again“. (Wie, Sie wissen nicht?).
Die brüllten: Hier muss sich was ändern.
Ich hörte das Lied noch schnell zu Ende und frage dann lahm: Wie? Ändern?
Wie ich mir das vorstellte, wie alles weitergehen sollte.
Was denn?
Die: Familie. Zukunftssicherung. Erneuerbare Energien. Moral. Religion.
Hä?
Ja, wie ich es mit der Religion zu halten gedächte?
Das wissen die doch. Ich denke nicht mehr darüber nach. So wie sich das gehört.
Die: Wahrscheinlich hielte ich es immer noch für ein Reformprojekt, dass Schröder, Trittin und solche nicht mehr auf Gott geschworen hätten.
Hm. Irgendwie schon.
Ich sei auch in diesem Punkt affirmativ-anachronistisch-kollektivistisch erstarrt. Verkrustet. Verantwortungslos. Und blöd.
Ich schlagfertig: Immerhin habe ich euch gezeugt.
Die: Ja. Und nun solle ich das toppen und gefälligst mal zum Friseur gehen. In der Kita lachten schon alle, weil ich aussähe wie ein Hippie. Außerdem sei Manfred Mann schon damals scheiße gewesen.
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Liebes Tagebuch: Was wollen die plötzlich alle mit ihren „Entwürfen“? So schwierig habe ich mir Altwerden nicht vorgestellt.
Fotohinweis: PETER UNFRIED Fragen zu Entwürfen? kolumne@taz.de Morgen: Kirsten Fuchs über KLEIDER