: „Wer muß denn um Pardon bitten?“
Mexikos Regierung bietet den Zapatisten eine Generalamnestie an / Erste Gespräche vereinbart / amnesty international attestiert massive Menschenrechtsverletzungen ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid
Der Aufstand in Chiapas scheint vorerst eingefroren – statt Kugeln und Drohungen tauscht man mittlerweile eher höflich gehaltene Kommuniqués aus. Ein Dialog zwischen Subcomandante Marcos und Friedensemissär Manuel Camacho Solis wird immer wahrscheinlicher: Zum ersten Mal richtete am Samstag der von Präsident Salinas ernannte Hauptverhandler das geschriebene Wort direkt an „die Generalkommandantur der EZLN“ – was als Anerkennung des „Zapatistischen Nationalen Befreiungsheeres“ als Kriegspartei gewertet wird.
Zunächst teilte Camacho seinem subversiven Gegenüber offiziell mit, was die mexikanische Öffentlichkeit schon wußte: Die von Präsident Salinas angekündigte Generalamnestie hatte in der Nacht zum Freitag den parlamentarischen Segen erhalten und war am Samstag in Kraft getreten. Verabschiedet hatten die Abgeordneten nach hitzigen Diskussionen, mit nur einer Enthaltung der linken PRD, eine „flexibilisierte“ Version des Gesetzentwurfes: Danach bleiben alle Delikte, die zwischen dem 1. und dem 20. Januar im Zusammenhang mit den Unruhen begangen wurden, unbestraft. Einzige Bedingung: die Freilassung etwaiger Geiseln und die Übergabe von Waffen und Sprengstoffen. Die genauen Bedingungen dafür seien allerdings erst noch „näher zu bestimmen“.
Die EZLN findet die großmütige Amnestieofferte des Präsidenten allerdings etwas „voreilig“. In einem von verschiedenen Zeitungen veröffentlichten offenen Brief fragte „Pressesprecher“ Marcos mit bitterer Ironie: „Wer muß denn um Pardon bitten, und wer kann es gewähren? Weswegen sollten wir denn um Gnade bitten? Daß wir nicht an Hunger sterben wollen?“
Doch selbst hier ist der Friedensverhandler Camacho um eine Antwort nicht verlegen: „Diese Frage kann man nicht vereinfachend beantworten. Grundlegend ist dabei natürlich, daß sich niemand über die anderen stellen kann, um zu vergeben, wenn während so vieler Jahre so viele Dinge geschehen sind, die nicht hätten passieren dürfen. Also geht es weniger um Vergebung als um eine politische Entscheidung über den effizientesten Weg, um den Frieden zu erreichen und Mißbrauch, Gewalt und Marginalisierung hinter uns zu lassen.“ Derart ungewohnten Tönen aus dem Munde eines gestandenen PRI-Politikers ist es wohl auch zu verdanken, daß die Guerilla-Führung ihn mittlerweile formal als künftigen Verhandlungspartner akzeptiert hat.
Bislang allerdings geht es nur um die logistische Vorbereitung von Verhandlungen und noch nicht um mögliche Inhalte: Konkret ist derzeit nur von der in Aussicht gestellten Freilassung des Ex- Gouverneurs Absalón Castellanos die Rede, der sich seit dem 2. Januar in der Gewalt der Aufständischen befindet. Im Gegenzug verlangt die EZLN die Freilassung aller seit dem 1. Januar Festgenommenen. Dem stände aufgrund der neuen Amnestieregelung auch grundsätzlich nichts im Wege, so Camacho am Sonnabend, nur müsse vorher die eindeutige „Einstellung aller Feindseligkeiten“ von der beauftragten Spezialkommission festgestellt werden. Er selbst und der Bischof Samuel Ruiz seien jedenfalls bereit, sich wie gefordert am „vereinbarten Ort“ einzufinden.
Über die Zahl der Verhafteten, der Toten und Verwundeten liegen auch drei Wochen nach Beginn der Kämpfe zwischen Zapatisten und Streitkräften noch immer keine verläßlichen Angaben vor. Einzelne Berichte aus den umkämpften Ortschaften setzen sich zu einem unvollständigen, aber dramatischen Mosaik zusammen.
So hörte sich Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú, Leiterin einer international besetzten „Indianischen Friedensinitiative“, am Samstag die Beschwerden der Anwohner von Oxchúc über das Eindringen der Armee in ihre Häuser an: Lebensmittel seien geplündert, Geschirr und Kleidung durchwühlt und zwei Männer verschleppt worden. Aber auch die Zapatisten hatten sich den Unmut von Teilen der chiapanekischen Bevölkerung zugezogen: Mitglieder eines unabhängigen Bauerndachverbandes berichteten von „Problemen“ mit der EZLN, die in einigen Orten die Männer nicht auf dem Feld arbeiten lasse. Mehrere Siedlungen seien von ihren BewohnerInnen aus Angst vor einer Zwangsrekrutierung durch die Guerilla verlassen worden. Der Einmarsch der Armee sei jedoch die „denkbar schlechteste Lösung“.
Besonders schmerzlich für die um ihr internationales Ansehen besorgte Salinas-Regierung dürfte die Schlußfolgerung sein, zu der amnesty international (ai) nach einer einwöchigen Rundreise durch das Krisengebiet kommt: Mexiko sei „weiterhin ein Beispiel für das Fehlen von Gerechtigkeit und die Verletzung von Menschenrechten“, so der Mexiko-Beauftragte Morris Tidball-Binz in einem Gespräch mit der Zeitung La Jornada. Unter den „hauptsächlich von der Armee“ begangenen Menschenrechtsverletzungen stechen besonders „die willkürlichen und meist gewalttätigen Verhaftungen ganzer Ortschaften“ hervor. Außerdem berichtet Tidball-Binz von „Schüssen auf unbewaffnete Personen“ und von der Hinrichtung von neun Personen in Ocosingo, „wahrscheinlich Zivilisten“. Dokumentiert seien die Fälle von „mindestens“ 35 Personen, die in Ocosingo willkürlich verhaftet wurden. Zwar waren 17 von ihnen inzwischen freigelassen worden – einige mit Spuren von Folter –, die übrigen seien aber weiterhin in Haft. Im Hauptgefängnis von Tuxtla Gutiérrez hatten ai-Mitarbeiter mit 70 Gefangenen gesprochen, von denen die Mehrzahl ohne Haftbefehl und unter Gewaltanwendung festgenommen worden waren; Folter und erzwungene Geständnisse seien die Regel gewesen.
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