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Wer hat Angst vorm Mittelalter?

Mit apokalyptischen Szenarien warnen Rechte vor Migration. Die Zuwanderung seit 2015 werde Europa in die Knie zwingen wie damals die Römer, so die Erzählung. Doch was brachte das Römische Reich wirklich zu Fall?

Der Untergang der Zivilisation: Wie hier, 1757 von Giovanni Paolo Panini interpretiert, wird heute wieder als Drohkulisse aufgebaut Foto: Fo­to: akg/picture alliance

Von Roland Steinacher

Zweitausendfünfzehn war das Jahr der „Völkerwanderung“. Selten gab es so viele Versuche, in der Gegenwart Parallelen zu diesem Ereignis der Spätantike zu finden, wie während der sogenannten Flüchtlingskrise und in den Jahren danach. Im Feuilleton grassierte die Angst vor einem Ansturm barbarischer Völker.

Millionen blickten sehnsüchtig nach Europa, war da etwa zu lesen, und kämen dann auch vorbei. Geert Wilders und Arron Banks boten radikalere Interpretationen. Letzterer, einer der Wortführer des Brexits, behauptete, das Römische Reich sei durch Immigration zerstört worden und dass dies nun auch Großbritannien drohe. Öffentlichen Einspruch von His­to­ri­ke­r*in­nen quittierte Banks mit einem generellen Zweifel an akademischer Expertise. Und ein deutscher Professor der Alten Geschichte konstatierte im Januar 2016 in der FAZ, die römische Willkommenskultur gegenüber Fremden habe zum Untergang des Reiches geführt. Angela Merkel warnte er gleich vor einer ähnlichen Entwicklung.

Woher kommt diese große Angst? Zwei Meistererzählungen wurden und werden hier immer wieder kombiniert und spuken keineswegs erst seit 2015 herum: der Untergang Roms und die Völkerwanderung.

Der Verfall und Untergang Roms verursacht durch wilde Barbarenhorden und das Christentum ist eine seit dem späten 18. Jahrhundert fest etablierte Geschichtserzählung. Bis 1789 veröffentlichte Edward Gibbon die sechs Bände seiner History of the Decline and Fall of the Roman Empire , die die Geschichte des Römischen Reichs von der Mitte des 2. Jahrhunderts nach Christus bis zur Einnahme Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 schildert. Berühmt sind Gibbons Fußnoten, die nicht nur eine profunde Quellenkritik belegen, sondern auch humorvoll und zugespitzt formuliert sind. Das Werk ist literarisch höchst ansprechend und wird bis heute häufig gelesen – ein echter Klassiker. Aber damit hat The Decline and Fall auch eine mächtige Meister­erzählung in die Welt gesetzt, die man nicht mehr los wird.

Vor Gibbon und der Aufklärung gab es die Idee eines Untergangs schlicht nicht. Man lebte in oder mit einem Heiligen Römischen Reich, dessen Kaiser sich in direkter Linie auf Caesar und Augustus zurückführten. Gerade weil dieses Reich im 4. Jahrhundert christlich geworden war, hatte es eine immense Legitimation. Als dann in der Zeit der Französischen Revolution und Napoleons die Welt sich langsam in Richtung des Industriezeitalters bewegte, wurde die Kirche ein Hauptfeind des entstehenden modernen Nationalstaats und der sich emanzipierenden Wissenschaft. Die große Erzählung von Zivilisation, Nation und Aufklärung formte nun ein positives Bild der Antike, die – unter tatkräftiger Hilfe der Pfaffen – in einem dunklen Mittelalter untergegangen sei.

Im antiken Rom wollten die neuen bürgerlichen Eliten die Ursprünge von Rationalität, Recht und einem stabilen politischen System entdecken. Im 19. Jahrhundert diente das Imperium auch als Rechtfertigung für Eroberungen, kolonia­le Herrschaft und kulturelle Über­legenheit. Die totalitären Regime des vergangenen Jahrhunderts wiederum fanden dort Bilder von Stärke und Ordnung, sie orientierten sich für ihre Propagandabauten gerne an römischer Architektur.

Geschichte ist eben immer auch die Geschichte der Wahrnehmungen und Bilder, die man sich von Ereignissen und Strukturen zu bestimmten Zeiten macht. Das bringt uns zur sogenannten „Völkerwanderung“, die vom 4. bis 6. Jahrhundert die politische Geografie Europas veränderte. Teilweise auf älteren gelehrten Debatten beruhend, handelt es sich auch hier um eine Meistererzählung aus dem Zeitalter Gibbons. Der seit dem späteren 18. Jahrhundert feststehende deutsche Epochenbegriff „Völkerwanderung“ wurde ins Polnische, Russische, Rumänische und in die skandinavischen Sprachen übernommen.

In den romanischen Sprachen bezeichnet man die Epoche jedoch als „barbarische Invasionen“. Franzosen, Italiener und Spanier dachten also eher aus einer römischen Per­spektive und haben viel negativere Assoziationen. Sie identifizierten sich mit Rom, während man in deutschen Landen die siegreichen Barbaren aus dem Norden als die eigenen Vorfahren stilisierte, die über die dekadente alte Welt triumphierten. Hier spielte auch ein protestantischer, also antirömischer Reflex eine Rolle.

Im deutschen Kaiserreich gab es dann schwere Zerwürfnisse zwischen preußischem Staat und katholischer römischer Kirche, das tat ein Übriges. Absurd mutet heute an, dass ein strammer Deutsch­nationaler doch stets seine germanischen Ahnen liebte, während die heutige Rechte sich anscheinend um die Größe Roms sorgt. In diesem Fall scheint sich das Geschichtsbild verschoben zu haben.

Generation um Generation deutete also die dramatischen Ereignisse am Ende der Antike in den europäischen Ländern jeweils neu, idealisierte oder dämonisierte Hunnen, Alanen, Vandalen, Goten und Burgunder.

Was diskutiert man nun aber in den Hörsälen und Seminarräumen unserer Universitäten? Es ist heute keine in der Fachwelt akzeptierte historische Tatsache, Einwanderung hätte das Römische Reich zerstört. Manche His­to­ri­ke­r*in­nen sehen Hunnen und germanischsprachige Verbände tatsächlich als Auslöser für das politische Ende des Weströmischen Reiches.

Foto: privat

Roland Steinacher

ist Professor am Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik der Universität Innsbruck. Autor von „Die Vandalen. Aufstieg und Fall eines Barbarenreichs“, (2016, Klett-Cotta) und „Rom und die Barbaren. Völker im Alpen- und Donauraum (300–600)“ (2017, Kohlhammer).

Hier kommt aber eine große Relativierung ins Spiel. Zwar gab es nach dem Jahr 476 (und bis 800 mit Karl dem Großen) keinen Kaiser mehr im lateinischen Westen, in Konstantinopel regierte jedoch weiter ein Basileus (griechisch für König) ein Reich, dessen Einwohner sich selbst als Rhomaoi, Römer, bezeichneten.

In der neueren Forschung werden immer öfter Entwicklungen im Imperium selbst für die Verwerfungen des 5. und 6. Jahrhunderts verantwortlich gemacht: Ähnlich wie am Ende der römischen Republik kam es schon im 3. Jahrhundert zu heftigen Bürgerkriegen und Abspaltungen ganzer Regionen. Die von Augustus begründete Ordnung hatte von Anfang an unter einem Mangel an Legitimität gelitten und geriet immer wieder in schwere Krisen. Zudem war die römische Gesellschaft höchst hierarchisch, ungleich und brutal. Wer arm war und kein Bürgerrecht besaß, kannte Willkür und Rechtslosigkeit.

Die Neuordnung der westlichen Reichshälfte im 5. Jahrhundert bedingte also zunächst innere Machtkämpfe, an denen in der Spätantike allerdings fremde Kriegerverbände beteiligt waren. Diese Truppenverbände – manche in der Größe kampfstarker Armeen – nennen wir Goten, Vandalen, Franken, Sueben und Langobarden. Sie begannen in chaotischen Situationen auf eigene Rechnung zu operieren oder drangen gewaltsam ins Reich ein und übernahmen schließlich die Macht in einzelnen Regionen.

Weniger die Angriffe von außen, sondern innerer Streit und die strukturelle Instabilität der kaiserlichen Herrschaft gelten heute als entscheidende Gründe für die Desintegration des römischen Westens. Diese wäre zudem wohl vermeidbar gewesen, denn in der Osthälfte des Reiches gelang ja wie erwähnt die Stabilisierung. Zweifellos waren das 5. und 6. Jahrhundert von Gewalt und Zerstörung geprägt. Zudem änderten sich grundlegende Strukturen. Städte wurden kleiner und spielten eine geringere Rolle, der überregionale Austausch verlor an Bedeutung.

Vor der Aufklärung gab es die Idee eines Untergangs schlicht nicht

Ob diese Entwicklungen aber vorrangig die Eliten betrafen, ist zu diskutieren. Womöglich waren Steuerlast und Druck auf die Mehrheit der Bevölkerung, die in der Landwirtschaft arbeitete, ohne die kostenintensive imperiale Herrschaft sogar geringer. Auch über einen Kulturbruch am Ende der Antike lässt sich trefflich streiten. Wäre diese Zäsur so massiv gewesen, würden wir dann in unseren Schulen noch Latein lernen? Gelehrte Mönche überlieferten uns die antike Literatur. Aus der alten Welt entstand die des Mittel­alters, jenes Europa, dessen Zerfall nun wieder in Niedergangsszenarien befürchtet wird.

Eindeutige Bewertungen helfen selten, historische Entwicklungen sind komplex. Vormoderne Gesellschaften lassen sich nur bedingt mit unserer Welt vergleichen. Alleine schon die technischen Möglichkeiten bedingen immense Unterschiede. Im gesamten römischen Reich mit all seinen regionalen Besonderheiten zwischen Britannien und dem Euphrat lebten maximal 75 Millionen Menschen, das steht in keinerlei Relation zur heutigen Demografie.

Was man aber beobachten kann, sind sich verselbständigende Diskurse. Forschungsdebatten stoßen auf Ablehnung, wenn sie vertraute Geschichtsbilder in Frage stellen. Die starken und einfachen Erzählungen von Untergang und Eroberung, die großen Akteure, die liebgewonnenen Gespenster will man sich nicht wegnehmen lassen, zumal in einer immer komplexer werdenden Welt. Längst haben sich parallele Sichtweisen verfestigt, viele blicken aus ihren Blasen nicht mehr heraus – und die Aussagen, die aus ihnen hervorquellen, sind dann entsprechend. Etwa: Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass die Invasionen der Barbaren Rom dieses Problem im Stadtbild beschert haben!

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