„Wenn ich mir andere Obdachlose ansehe, verdreckt, vollgekackt, dann weiß ich, dass ich so nicht enden will.“

Jeden Abend um 20 Uhr. Der Mitternachtsbus startet am Hauptbahnhof seine Tour zu Hamburgs Obdachlosen. Im Ausschank heiße Getränke, belegte Brötchen und für Notfälle ein paar Klamotten  ■ Von Elke Spanner

Pauls Schlafsack liegt in einer Pfütze und ist nass. Eine zweite Isomatte will er trotzdem nicht haben, „die muss ich ja immer mitschleppen“. Und die Klamotten, die er am Körper trägt, sind dem Wohnungslosen schon Last genug.

Pauls Platte ist die letzte Station des Mitternachtsbusses. Er übernachtet nahe des Hauptbahnhofes, direkt neben dem vierspurigen Klosterwall, Wetterseite. Sein Schlafplatz ist Regen, Windböen und Verkehrslärm ausgesetzt. Trotzdem hat sich Paul für diesen und gegen einen geschützten Ladeneingang entschieden. „Vielleicht wird er dort morgens weniger gestört", mutmaßt Barbara Rieck, Projektleiterin des Mitternachtsbusses. „Viele Obdachlose müssen um halb sechs hoch, weil die Putzkolonnen kommen.“

Der Mitternachtsbus startet um 20 Uhr am Hauptbahnhof, im Winter allabendlich, im Sommer alle zwei Tage. Im „Backhus“ in der Spitalerstrasse lädt das Team die Backwaren ein, die am Tag übrig geblieben sind, um sie zusammen mit heißen Getränken an Obdachlose zu verteilen. Kuchen, gefüllte Berliner, belegte Brötchen. „Gerade Brötchen sind immer sehr schnell weg“, erzählt David Marcy, einer der vier Ehrenamtlichen, die an diesem Abend mit dem Bus die Runde durch die City fahren. Noch während dieser vor der Bäckerei parkt, wird der Bus von einem zufälligen Passanten erkannt. „Habt Ihr mal ein altes Brötchen?“ Rieck vertröstet ihn auf später, um halb elf am Mönckebergbrunnen, ob er Bescheid wisse? „Klar.“

Der Bus startet, und schon ist ein wenig Zeitdruck da. Die Route ist lang, Pünktlichkeit ist wichtig, weil viele Obdachlose sich darauf eingestellt haben, jeden Abend zur selben Zeit ein heißes Getränk zu bekommen. Außerdem kann sich die Tour noch ausweiten, wenn das Team vom Bus aus neue Platte erspäht. Liegt jemand an einer bisher unentdeckten Stelle, hält der Bus dort an, nimmt Kontakt auf, und auf Wunsch wird die Platte dann fest in die Route mit aufgenommen. Auch wenn dort nur ein einzelner Mensch angetroffen wird, gerade dann. „Gerade die Einzelnen werden oft vergessen“, sagt Rieck.

Erste Station, Reeperbahn. Der Bus wird bereits erwartet. An der rechten Seite gibt es Essen, hinten Getränke. Kaum sind die Türen geöffnet, stehen lange Schlangen davor. Einer scherzt „ein Hähnchen mit Pommes Frites und Salat bitte“, lacht herzlich mit einem Kollegen über seinen Witz und nimmt zufrieden einen Berliner entgegen. Hinter dem Bus haben vier Männer und eine Frau einen Stromkasten zum Tisch umfunktioniert. Fünf Pappbecher mit Kakao oder Kaffee dampfen im Nieselregen schwach vor sich hin.

Günter prostet den anderen mit seinem Kakaobecher zu. Er erzählt, dass er jeden Abend herkommt, obwohl er mittlerweile ein Zimmer hat. Auch tagsüber geht er in Aufenthaltsstätten für Obdachlose, „was soll ich denn zu Hause, fernsehen?“

Der Mitternachtsbus wird vom Diakonischen Werk betrieben. Unterwegs ist er mit je einem Fahrer und drei weiteren Personen, die aus dem Fahrzeug heraus Obdachlose versorgen. 68 Menschen teilen die Touren zurzeit unter sich auf. Mit den unterschiedlichen Standorten fahren sie auch unterschiedliche Szenen an. An der Reeperbahn und später in der Mönckebergstraße sind es überwiegend ältere Männer, viele, die durch die klassische Spirale Arbeitslosigkeit, Alkohol, Räumungsklage auf der Straße gelandet sind. Vor der „Roten Flora“ am Schulterblatt dagegen sind es überwiegend Junkies, die auf den Bus warten. Die meisten sind jung, und für ein kurzes Gespräch, eine kleine Runde wie um den Strom-kasten auf der Reeperbahn, bleibt keine Zeit. Hier geht es nicht um Worte, hier geht es um Brötchen und Zitronentee.

Einer Frau sucht Rieck ein paar Schuhe raus. Nur für Notfälle hat der Bus ein paar Klamotten dabei, ebenso Schlafsäcke und Isomatten. Eigentlich sollen die Obdachlosen sich tagsüber in den Kleiderkammern versorgen. Dies aber ist ein Notfall, denn die Frau trägt nur noch einen Schuh, und es ist kalt und regnet. Sie selbst hat es zuvor nicht einmal bemerkt.

Zwischen den größeren Treffpunkten fährt der Bus einzelne Schlafplätze ab, die sich mal einzelne, mal zwei oder drei Wohnungslose zusammen gesucht haben. Tagsüber müssen die Platten geräumt werden, dann sind deren BewohnerInnen unterwegs, Schlafsack, Isomatte unter dem Arm, die paar Klamotten am Körper oder in einer Plastiktüte verstaut.

In den Geschäftsstraßen der City entwickelt sich nachts ein ganz eigenes Leben, das in nichts an das erinnert, was man tagsüber beim Einkaufen dort erlebt. Dann liegen Menschen in Hauseingängen, durch die tagsüber Geschäftsleute in Anzug und Kostüm zum Büro eilen. Oder neben Schaufenstern, welche die Verkäufer zum Feierabend extra noch beleuchtet haben, damit die Auslage auch nachts noch zu bewundern ist.

Am Jakobikirchhof schlafen zwei Männer und ein Hund. Der bellt, als der Bus vor dem Hauseingang hält. Einer der Männer kommt zum Bus, um für beide Kaffee zu holen, und droht dem Hund, ihn morgen ins Tierheim zu bringen, wenn er nicht endlich die Schnauze hält. Eberhard und Jens hingegen, die hinter der Nikolaikirche an der Ost-West-Straße übernachten, haben keinen Hund, der sie bewacht. Vor zwei Wochen wurden sie im Schlaf von drei Männern zusammengetreten. „Das sind die Helden von heute“, brummt Eberhard und zeigt Rieck seinen Fuß, an dem die Angreifer ihm einen Zeh zerquetscht haben.

„Wir hatten nicht damit gerechnet in der Nacht. Wir hatten was getrunken, klar, ohne Alkohol kannst Du das Leben nicht fahren. Dann kam der Angriff“, erzählt Jens. Seither wechseln sich die beiden mit Wache schieben ab, mal schläft der eine, mal der andere. Angst, sagt Jens, hat er trotzdem nicht. Er lebt seit über 20 Jahren draußen, „seit meine Frau und meine Tochter gestorben sind“. Die beiden winken dem Bus hinterher. „Fahrt vorsichtig, und lasst euch nicht...“ „Wir lassen uns nicht mitschna-cken, alles klar“, erwidert Hans Ulrich Jacob vom Mitternachtsbus-Team.

Die meisten Obdachlosen freuen sich sichtlich über den Besuch. Der ist nur kurz, aber anders geht es nicht, die Route ist lang. Wer den Moment verpasst, in dem der Wagen vor seiner Platte hält, muss auf den nächsten Abend hoffen oder an einem späteren Treffpunkt dazustoßen. Wie Herbert, der „noch eben vor Radio Hamburg ein biss-chen Musik und Nachrichten hören will“ und eine halbe Stunde später, pünktlich um halb elf, zum Brunnen in der Mönckebergstraße kommt. Die meisten Obdachlosen kommen von sich aus, sobald der Bus hält. Anderen bringt die Besatzung ein Getränk direkt an den Schlafsack, „ich hab meine Hose schon ausgezogen“, entschuldigt sich Marcel, als er im Sitzen seinen Kaffee entgegennimmt.

Kaum einer nutzt die Visite, um über sein Leben auf der Straße zu klagen. Eher erzählt man kleine Erlebnisse oder fragt im Gegenzug, wie es mit dem Bus gerade so läuft. Wer auf der Straße wohnt, richtet sein Leben darauf ein oder hofft auf eine bessere Zukunft. Marcel zum Beispiel, 27 Jahre alt und seit drei Jahren „unterwegs“ übernachtet nahe dem Chile-Haus, „hier sind so viele schöne Menschen“, sagt er und lacht. Er ist sicher, dass dieses Leben für ihn kein Dauerzustand sein wird. „Wenn ich mir andere Obdachlose ansehe, verdreckt, vollgekackt, dann weiß ich, dass ich so nicht enden will.“ Manche meiden bewusst die Gesellschaft anderer Wohnungsloser. Jens sagt, er geht tagsüber nie in den Tagestreff „Pik As“, und auch die Schlafplätze, die die Sozialbehörde im Winternotprogramm eingerichtet hat, sucht er nicht auf. „Was soll ich da, mir Tierchen holen?“ Außerdem müsste man da Nachts die Schuhe anbehalten, „sonst sind sie morgens weg“.

Mittlerweile steht der Bus kurz vor seiner Endstation am Hauptbahnhof. Es ist fast Mitternacht, die Vorräte sind erschöpft, das Team auch. Doch immer wieder kommen Leute angeeilt. Es ist schwer, irgendwann einfach Schluss zu machen und weiterzufahren. Carsten bekommt als Letzter noch einen Kakao. Er blickt in seinen Becher. „Das wird wieder ein verlängerter Kakao.“ Ob das Getränk nicht in Ordnung sei, will Hans Ulrich Jacob wissen. „Doch“, lacht Carsten, „aber es regnet.“