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Archiv-Artikel

„Wenn du die große Liebe willst, dann musst du aus dem Körper raus“

Rainer Langhans war der Oberkommunarde von 1968 und der Körper der sexuellen Revolution. Viele denken heute: Der ist doch von gestern. Wirklich? Es gibt Indizien, dass er ganz vorne ist – ein zweites Mal

RAINER LANGHANS

1968: Am 11. April öffnet Langhans die Tür der Berliner Kommune 1. Ein ihm unbekannter Mann fragt ihn nach dem APO-Anführer Rudi Dutschke. Er schickt ihn zum SDS-Quartier am Ku’damm. Dort feuert Josef Bachmann drei Kugeln in Dutschkes Körper. War das so? „Das kann so gewesen sein. Aber ich erinnere mich nicht“, sagte Langhans der taz. „Da klingelten so viele Leute.“ Sechs Männer, drei Frauen und ein Kind hatten im Januar 1967 die K 1 gegründet, darunter Fritz Teufel und Rainer Kunzelmann, um sich (und die Gesellschaft) von bürgerlichen Lebensformen zu befreien – und dem Faschismus zu entkommen. Dieser entstand nach der Theorie des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) aus dem unterdrückerischen Charakter der Kleinfamilie. Langhans zieht im März 1967 in die Kommune und wird für das westdeutsche Bürgertum zum Symbol der „sexuellen Revolution“. Gilt mit Freundin Uschi Obermaier als „das schönste Paar der APO“. Die Kommune löst sich Ende 1969 auf. Heute: Ist Autor und Grimme-Preis-ausgezeichneter Filmemacher. Lebt seit Mitte der 70er in einem 29-Quadratmeter-Apartment in München. Arbeitet mit Christa Ritter, Brigitte Streubel, Anna Werner und den Zwillingsschwestern Jutta Winkelmann und Gisela Getty an einem „sozialen Experiment“ (Wikipedia), das vor allem Selbstanalyse bedeutet. Geboren: 19. Juni 1940 in Oschersleben. Wuchs in Jena, DDR, auf. Zum taz-Gespräch traf sich Rainer Langhans mit Redakteur Peter Unfried vor seinem Haus in München-Schwabing. Das Foto zeigt Langhans am 4. März 1968.

VON PETER UNFRIED

Nach vielen Jahren trafen sich Mitglieder der Kommune 1 im letzten Sommer erstmals wieder. Das Geld hatte sie aus ihren Löchern gelockt. Der Spiegel war bereit, für ein gemeinsames Foto zu bezahlen. Aparterweise auf einem Berliner Friedhof. 1.000 Euro pro Exkommunarde. Danach ging man in ein Lokal und versuchte zu kommunizieren.

„Dieter“, sagte Rainer Langhans zum Exkommunarden Kunzelmann, „du warst doch immer der Chef, setz dich an den Kopf des Tisches.“

„Bist du verrückt“, habe Kunzelmann geantwortet, „ich setz mich doch nicht mit dem Rücken zum Fenster. Da können die mich doch von hinten erschießen.“

Wirklich traurig, depressiv und superprekär seien diese Menschen, die 1967 mit Langhans die Berliner K 1 gründeten, um neue und bessere Formen des Lebens und Zusammenlebens zu erkunden und damit nachhaltigen Einfluss auf die westdeutsche Gesellschaft, Mediengesellschaft und Identitätsbildung zu nehmen. Spiegel-Mann Matthias Matussek zählte Ulrich Enzensberger die Scheine in die Hand, der kranke Fritz Teufel lachte in sich hinein, dann waren sie wieder weg. „Wie Dealer auf dem Friedhof“, sagt Langhans. Mit Matussek redete nur einer: er.

Es ist ein richtig schöner Tag in München. Wir sitzen auf einer Bank im Luitpoldpark, ein paar Schritte entfernt von Langhans’ Schwabinger Wohnung. Er, sagt Langhans, habe Kunzelmann unter anderem gefragt, wie das nun war mit der Bombe, die 1969 am Jüdischen Gemeindehaus in Berlin gelegt wurde.

„Oh“, habe der gesagt, und dass er öffentlich nicht drüber sprechen wolle. „Wir konnten kaum miteinander reden, großes Misstrauen mir gegenüber, weil ich ja eine Medienhure bin, die dieses Zeug von ihnen verramscht.“ Langhans hatte den Eindruck, dass seine ehemaligen Freunde „nicht mehr richtig leben“. Irgendwie, sagt Langhans, seien sie mittlerweile „fast wie ihre Nazi-Eltern“. Sie verweigerten das Gespräch darüber, was sie damals gemacht haben.

Seine These ist, dass sie 40 Jahre nach 1968 so traurig sind, weil sie den anderen und sich selbst nicht vergeben können, verloren zu haben, sogar die Welt noch schlimmer gemacht zu haben. Er sieht das Gegenteil: „Wir haben gewonnen, wir wissen es nur noch nicht.“ Das Missverständnis über 1968 ist Folgendes: „Wir dachten damals, wir seien nur links“, sagt Langhans. „Dabei war 1968 eine spirituelle Bewegung.“

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Auf der Leipziger Buchmesse ist Sex das größte Thema, 1968 das zweitgrößte. Es ist nur konsequent, dass Langhans nach der Fernsehmoderatorin und Neu-Schriftstellerin Charlotte Roche das größte Publikum zieht. Eigentlich hatte er ein 500-Seiten-Manuskript geschrieben, aber der Blumenbar-Verleger Wolfgang Farkas warf es in den Papierkorb und ließ ihn Kassetten besprechen. Langhans gibt sich hin und wieder ein bisschen gekränkt, dass dem Vorurteil Nahrung gegeben wird, er könne eigentlich nicht schreiben. Herausgekommen ist: „Ich bin’s“. Langhans nennt es eine „geistige Biografie“, deren vermeintliche Schwäche vielleicht ihre Stärke ist: Sie richtet sich nicht an den Inner Circle oder das Feuilleton, sondern ist einfach aufgeschrieben, weist über den 68er-Schlussverkauf dieses Jahres hinaus und möchte deutlich spürbar Nachgeborene erreichen.

Auf einem blauen Sofa erklärt er in Leipzig den Unterschied zwischen der von Rudi Dutschke angeführten politischen Studentenbewegung und den ungleich größeren, weil menschlicheren Zielen der Kommune: „Uns war es nicht genug, so ein bisschen die Produktionsverhältnisse zu ändern.“ Er redet vom Pudding-Attentat auf US-Vizepräsident Hubert H. Humphrey, über seinen „Freund“, den RAF-Anführer Andreas Baader („Baby Baader war unser Schüler“) und auf Nachfrage auch über seine Exfreundin Uschi Obermaier, die er einst als Prototyp des natürlichen „Neuen Menschen“ gegen Che Guevaras Modell der Umerziehung positionierte.

Selbstverständlich geht es auch um den Sinn der Vermeidung des Samenergusses, ein weiterer Langhans-Klassiker. Sämtliche Frauen hätten es gar nicht toll gefunden, dass er ihnen den Samen konsequent verweigert habe. Der Andrang wird immer größer. Die Emotion im Publikum auch. Irgendwann kommt die Stelle, an der Langhans sagt: „Es gibt etwas viel Higheres als Orgasmen.“

Die Moderatorin (tut neugierig): „Aber was ist das denn?“

Langhans (betont): „Der Geist.“

Ein Mann im Publikum (kopfschüttelnd): „Verrückt.“

So scheint es stets zu sein, wenn Langhans vor größerem Publikum auftritt. Man hält ihn für einen Kasper. Die interessanten Sachen gehen unter.

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Selbstverständlich muss man nicht weit fahren oder viel telefonieren, um jemand zu finden, der Langhans für einen notorischen Schwätzer hält. Er sei einer, der nichts auf die Reihe gekriegt habe, sagt einer. Der, wo immer er hinkomme, nach fünf Minuten anfange zu nerven. Einer, dessen öffentliche Wahrnehmung als Symbol der Außerparlamentarischen Opposition der späten Sechziger falsch oder zumindest übertrieben sei. Dessen Sex- und Haremgeschichten einen hohen Peinlichkeitsgrad hätten. „Dieser Witzbold da, den wir damals immer für ein Mädchen gehalten haben“, nennt ihn der Regisseur und Zeitzeuge Klaus Lemke („Brandstifter“). Die Nacktbilder der Kommune, die provozieren sollten, hätten ausgesehen „wie frisch aus dem KZ“. Überhaupt sei „beim Frauenarzt mehr gelacht worden als in der Kommune“. In den späten Achtzigern hat Langhans Adolf Hitler als „spirituellen Sinnsucher“ besetzen wollen und wurde dafür von der moralisch empörten Linken als „esoterischer Faschist“ gebrandmarkt. 1985 schrieb er in der taz über die Grünen, sie entwickelten sich „inhaltlich nach dem gleichen Muster wie die Nazis“. Langhans, sagt sein Verleger Farkas, „ist ein Mensch, der Extreme vereint. Er ist eigensinnig und offenherzig, befremdlich und liebenswürdig, verschroben und sexy zugleich.“

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Langhans hatte schon vor vierzig Jahren die Idee, einen „Popkonzern“ zu gründen. „Popkapitalismus“, das sei „eine politische Überlegung“ gewesen. Nämlich: „Den Leuten mit dem ihnen viel vertrauteren Geld statt mit Waffen beizubiegen, dass man besser leben kann.“ War nach dem Scheitern der Bewegung sein Ansatz der Kommune: Wir verkaufen, was wir leben, der Gesellschaft – zu deren Wohl. Aus dem Popkonzern wurde bis heute nichts. Es war aber ein weiterer Grund, warum er wegen angeblichem Ausverkauf der Revolte als „Verräter“ aus der linken Gemeinschaft ausgestoßen wurde. Es ist schon mehr als eine Ironie der Geschichte, dass er heute nicht in einer Villa in Berlin-Zehlendorf lebt, dass er nicht um die Welt jettet, und eigentlich kaum etwas verkauft, sieht man von seinen Persönlichkeitsrechten am letztjährigen Obermaier-Film „Das wilde Leben“ ab und jetzt dieser Autobiografie sowie dem Fotoband „K 1 – Das Bilderbuch der Kommune“, den er mit seiner langjährigen Vertrauten Christa Ritter herausgegeben hat.

Er lebt seit Mitte der 70er in einem 29-Quadratmeter-Apartment in Schwabing. Allein.

„Seine“ fünf Frauen, der sogenannte Harem, sind eine Gruppe, die sich seit mehr als 35 Jahren regelmäßig trifft und aktuelle Themen debattiert, vor allem aber sich nachhaltig selbst analysiert. Langhans’ Erfahrung: Frauen scheinen eher bereit, die innere Welt wichtig zu nehmen, Männer dagegen eher nicht. Außerdem wollten die Frauen nicht zu viele Männer, um nicht in eine Art Duldungsstarre zu verfallen. Deshalb seien außer ihm keine anderen Männer in der Gruppe. Männer sind allerdings auch schnell genervt von Langhans und neigen dazu, das für „Geschwätz“ zu halten, was er sehr ernst die „Arbeit“ einer „Sinnsuchergemeinschaft“ nennt. Ist er die Vaterfigur oder der Lehrer der Frauen? Nein, sagt er, er sei ja selbst Schüler. „Ein Mann für mehrere Frauen“, formuliert er in seinem Buch, „ist ein Mann in einer sehr abgeschwächten Form“, also ein besserer Mann. Gab es auf der „körperlichen Triebebene“ Bedürfnisse nach „herkömmlichem Sex“, dann holten sich seine Frauen dafür temporär einen schwachen Mann: einen „Lakaien“. Die Lakaien sehen das selbstverständlich anders.

Langhans wird im Juni 68, er kriegt 190 Euro Rente: Er war Anfang der 60er Zeitsoldat. Und als er in den späten Siebzigern Regieassistent von Rainer Werner Fassbinder war, hat er in die Künstlersozialkasse eingezahlt. Hat keine Rücklagen. Wenn er Zahnweh hat, geht er in die Zahnklinik, in der Zahnmedizinstudenten sich ausprobieren.

Lebt er so, weil er kein Geld hat, kein Geld will oder hat er kein Geld, weil er so lebt? „Einerseits habe ich nicht viel getan, um in dieser Welt diese Spiele mitzumachen. Deswegen lebe ich auf einem so niederen Level. Aber ich will es auch nicht.“ Als Konsument sei er eine Katastrophe. Sein Rainer-Langhans-Outfit lässt er sich aus Indien mitbringen. Trägt die Sachen, bis sie auseinanderfallen. Geht kaum aus. Tägliche Wege legt er zu Fuß oder mit seinem Fahrrad zurück. Er gehe, sagen Menschen, die ihn kennen, auch nicht ins Café. Er liest täglich mehrere Zeitungen. In der Bibliothek und im Netz. Manchmal spielt er Tennis oder Squash. „2,50 Euro, da ist dann aber auch die Sauna drin.“ Ansonsten gilt: „Ich konsumiere nichts, außer so ein bisschen essen. Biologisch. Vegetarisch.“

Ist er Öko? „Natürlich.“ Kein Fleisch, kein Fisch, keine Eier. Das letzte Huhn hat er vor 35 Jahren gegessen. „Das ist erst mal die gröbste Form von Gewaltlosigkeit.“ Gewalt verrohe, auch Gewalt gegenüber Tieren und Pflanzen, und falle auf einen selbst zurück. Zum Beispiel: Wer Pflanzen vergifte und sie dann esse, vergifte auch sich selbst. Das sei aber lediglich ein Nebenthema. „Wenn du versuchst menschlicher oder geistiger zu werden, wirst du selbstverständlich ökologischer.“ Sein Ziel ist es, „so wenig körperlich und so wenig materiell wie möglich in dieser Welt vorzukommen“. Erst dadurch könne sich der Geist entfalten. Zudem sei das gut für den Körper. Der alternde Körper werde nicht zuletzt dadurch krank, weil man glaube, ihm die alten hedonistischen Anstrengungen zumuten zu müssen. Es gehe darum, die alten Genusstechniken durch neue zu ersetzen. Zum Beispiel: Viel essen durch weniger essen.

Zudem ist er Trendsetter. Die Gesellschaft bewege sich, auch durch Verlust der Arbeit und Verarmung, gezwungenermaßen weg vom Materiellen hin zum Geistigen. Er, Langhans, verstehe es als „Luxus“, dass er wenig Dinge habe, die er zunächst besorgen, dann bedienen, pflegen, schön finden und wieder entsorgen müsse.

Im Prinzip sei das Zurückdrängen des Körpers auch ein Teil der 68er-Bewegung, nur brauchte man damals Drogen oder Demonstrationen dazu, um den Geist freizulegen, also „zeitweilige Vergiftung oder Begeisterung“.

„Es gibt etwas viel Higheres als Orgasmen.“ – „Aber was denn?“

„Es geht darum, dass wir verstehen, dass wir nicht der Körper sind, sondern eigentlich Geist. Den Körper haben wir nur für eine bestimmte Zeit und bestimmte Aufgaben.“ Es geht um die Beschäftigung mit sich, die politisch sei – und von den meisten durch Ausweichbewegungen (Konsum, Beziehungen, Beruf, Kinder) vermieden werde.

Selbstverständlich ist Langhans’ Leben seit den mittleren Siebzigern besser zu verstehen, wenn man weiß, dass er nach dem Ende der Bewegung und Aufregung die damals häufig folgende schwere Lebens- und Sinnkrise hatte – und diese mit Hilfe eines Meisters überwand, des indischen Gurus Kirpal Singh. Er begleitete ihn in seiner materiellen Form auf seiner letzten Weltreise durch Europa. Bald darauf verließ der Meister den Körper. Langhans sagt: „Ich wäre auch nicht mehr im Körper, wenn ich nicht diesen Weg gefunden hätte.“ Es sei der Weg des Spirituellen, den der Osten kennt und den der Westen verlernt hätte zu sehen, „durch dieses: Ihr seid alle erlöst, weil einer mal vor 2.000 Jahren was gemacht hat und braucht also nichts mehr zu tun in dieser Richtung.“ Das habe er „denen“ mal verdammt übel genommen, „aber inzwischen sage ich: okay.“

Man hat manches, was Langhans sagt, schon gelesen bei der Gesprächsvorbereitung, im Buch oder anderswo und gedacht: Na ja. Aber wie er da so unaufgeregt, fast beiläufig redet, klingt es überhaupt nicht wichtigpopichtig und auch nicht verrückt.

Zum Beispiel, wenn er sagt: Geistig werden heißt jünger werden, weil man dann weniger alternder Körper ist. Langhans sagt, er übe sich darin, „immer weniger im Körper zu sein, bevor er mich wirklich verlässt“. Übersetzungsversuch: Er ist bereits vor dem Tod ins jenseitige Leben aufgebrochen, und das kommt richtig gut. Der Grundirrtum besteht für ihn darin, dass die Energie der Leute häufig komplett in den Versuch mündet, „körperlich bleiben zu wollen“, also Anti-Aging mit allen Mitteln statt sich weiterzuentwickeln. Wenn man ihn richtig versteht, hat Langhans 1968 die gute Jugend erfunden und ist 2008 dabei, auch das gute Alter zu erfinden – oder zumindest intensiv zu suchen.

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Der Sonne folgend, wechselt Langhans an diesem Nachmittag im Luitpoldpark von Parkbank zu Parkbank. Einmal geht eine Frau vorbei, so Anfang 60. Sieht seine Locken, seine weißen Kleider. Bleibt stehen, kommt zurück, lächelt und sagt dann: „Darf ich fragen, wie Sie heißen?“

„Rainer Langhans“, sagt Rainer Langhans freundlich.

Darauf sie: „Ah. Sogar im Bayerischen Wald kennt man Sie.“

Ein anderes Mal bleibt eine Frau stehen, auch so Anfang 60, und sagt – ohne sich vorzustellen: „Es war schön. Aber damals waren wir jung.“ Dann geht sie weiter. Langhans lächelt.

*

Warum kommt Rainer Langhans immer mit den Themen an die Öffentlichkeit, die nicht besonders spannend sind? Er sagt: Weil man ihn immer danach fragt. Wie war das mit Uschi? Was läuft ihm Harem? Wie ist das mit dem Samenerguss? Unlängst widmete Springers Bild sich wieder dem Thema. Sein Verleger habe zum Interview geraten. „Mit der Überlegung: Spermablatt, die interessieren sich dafür.“ Taten sie auch. Langhans kriegte eine Dreiviertelseite. Aber: „Ich habe schon während des Gesprächs gemerkt, dass das nichts wird. Da habe ich gesagt: Lassen Sie das lieber, Sie bringen das nicht.“ Es war dann im Prinzip eine Statistik, auf der man die Entwicklung von Langhans’ Ejakulationen pro Jahr seit den Siebzigern verfolgen konnte. „Es war schlecht. Aber es hätte gut werden können.“

Langhans, das merkt man schnell, ist das, was man im Mediengeschäft einen Blattmacher nennt. Das war eine Stärke der Kommune: das Blattmachen, das Inszenieren, das Dichten von Slogans. Zusammen mit dem Stern war man ein kongeniales Team. Die Journalisten kamen und fragten: „Könnte man vielleicht sagen, dass wer zweimal mit derselben pennt, schon zum Establishment gehört?“ Könnte man, brummten die Kommunarden. Sagen kann man viel.

So wird Geschichte gemacht.

Den Kommunen-Jahrestag letzten Sommer hatte der Spiegel mit seiner Mitarbeit als Titelgeschichte geplant. Das Titelblatt war auch schon fertig, doch dann „haben uns die RAFs noch abgefangen, auf den letzten Metern, wieder einmal, immer wieder: Diese negative Schattengeschichte fängt das Licht ab.“ Er hatte mit dem damaligen Spiegel-Chef Stefan Aust geredet, weil der ihn für seinen ARD-Mehrteiler über die RAF interviewen wollte.

„Stefan, du bist doch der RAF-Experte. Überleg doch mal, woher dieser faszinierende Schatten kommt, vor dem ihr alle in die Knie geht, vor allem die alten 68er.“

Aust wusste es nicht.

„Dieser tiefe Schatten kommt von einem starken Licht.“ Das Licht war das eigentliche 1968. Daraufhin habe Aust ihm gesagt, dass er sich das so noch nie überlegt habe, es aber irgendwie stimme. Er machte dann doch den RAF-Titel, weil gerade die Entlassung zweier langjähriger RAF-Häftlinge anstand. Langhans’ These ist: Man muss auf das Licht schauen, wenn man seinen Schatten verstehen will. „Das ist auch ein Punkt bei dieser Hitlerei.“

Falls die These stimmte, dass 1968 gewonnen hat, aber nicht als politische Idee, sondern als Pop, dann wäre der nachhaltig wirkende Kitzel der Oberflächen-Opern RAF und Obermaier doch nur konsequent; dann hätte der Sieger Langhans sich selbst geschlagen. „Wieso? Finde ich nicht. Pop ist für mich nie nur Oberfläche, sondern immer Hinweis auf einen tieferen Kern. Aber das Bewusstsein braucht vielleicht jahrzehntelang Pop, bis es sagen kann: Da steckt etwas Tieferes dahinter.“

„Die Alt-Kommunarden sind heute ‚fast wie ihre Nazi-Eltern‘“

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Rainer Langhans kann man praktisch alles fragen. Das sei das Erbe von 68. Er ziert sich nicht, taktiert nicht, weicht nicht aus, kokettiert kaum.

Sind Sie glücklich, Herr Langhans?

„Ja. Ich bin noch nicht großartig glücklich. Aber ich bin glücklicher denn je in meinem Leben, weil ich mir näher gekommen bin, als ich das je vorher war. Mit meinen schwachen Kräften und dürftigen Bemühungen, die ich da aufbringen kann. Dass man das kann, dass man von einer so großen Entfernung sich so nahekommen kann, das hätte ich nicht für möglich gehalten.“ Langhans’ These ist, dass die Entfernung, die mancher zur Welt zu haben glaubt, letztlich die deprimierend endlose Entfernung zu sich selbst ist.

Es heißt, er habe keinen Funken Humor. Aber er lacht oft. Er schwärmt bewusst naiv von Google. Er lehnt die Vorstellung von Gegenkultur ab, die 1968 folgte, weil man sich in Nischen zurückzog und damit den Anspruch aufgegeben habe, „dass eine bessere Welt für alle möglich ist“. Er glaubt allerdings auch nicht, dass die materielle Welt so zu verändern ist, „dass wir glücklich sind“. Er sieht das Internet als geistige Welt und die heutige Kommune, weil alle drin sein können. Er hofft, dass man lernen kann, darin gut zu leben – und dadurch auch in der realen Welt. Er sieht die Schere zwischen Reich und Arm größer werden, aber er glaubt, dass es eine dominantere Entwicklung gibt, und das ist für ihn die Abkehr von der westlichen Welt und „diesem ganzen alten, materiellen Scheiß. Der doch nur unglücklich macht. Wir werden ärmer, und das ist gut für den Geist.“

Er glaubt darüber hinaus an geistige Vererbung. Davon redet Langhans allerdings stets im Konjunktiv. Reinkarnation sei schließlich „ein mentales Konstrukt“, das er nicht überprüfen könne. Er sagt: „Wenn ich einen erweiterten Vererbungsbegriff in diese materielle Welt einführe, die nicht sieht, dass es geistige Vererbung gibt, dann wäre es unmittelbar verständlich, dass die Menschen sich angezogen fühlen von schöneren Schicksalen, die aber bereits vor diesem Leben existierten.“

Nehmen wir Uschi Obermaier. Sie war die schönste Frau der Welt und hatte den wunderbarsten Körper der Welt. Das war so gedacht kein Zufall, sondern Folge der Vererbung einer mentalen Situation. Er liebte also viel mehr als die Oberfläche. Andererseits konnte gerade Obermaier vom Körperlichen nicht loslassen. „Sie war die schönste und größte Liebesmöglichkeit, die man in dieser Art von Welt haben kann.“ Aber: „Es hat mir einfach nicht gereicht.“ Irgendwann kam ihm die Erkenntnis: „Große Liebe ist nicht im Körper möglich.“ Anders gedacht: „Romeo und Julia. Uraltes Ding. Wenn du die große Liebe willst, musst du aus dem Körper raus.“ So wie er die Projektionsfläche Obermaier weiterentwickelt hat, ist sie kein Sexsymbol, sondern ein Nachdenksymbol.

Später geht Langhans schnellen Schritts bei Rot über die Herzogstraße. Eine Frau schreit redlich empört: „Sehen Sie nicht, dass hier Kinder stehen!“ Er dreht sich nicht um. Warum tut er das? „Weil ich es kann. Und sie nicht. Sie brauchen nicht jedem Erwachsenen alles nachzumachen.“

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Das Beste an einem Gespräch mit Rainer Langhans ist, dass man danach klarer sieht: dass Dinge auch anders sein können. Dass Ficken überschätzt wird. Dass man der Sonne folgen muss, damit man nicht friert. Dass man jünger und besser werden kann, wenn man nachdenkt. Dass man bei Rot über die Ampel gehen kann, obwohl Kinder dabeistehen. Dass man menschlicher wird, wenn man ökologischer lebt. Vor allem aber: dass die Revolution nicht anfängt, wenn man sie nicht bei sich selbst beginnt.