Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt

■ Neue Bücher zum Kynismus

Man schimpfte ihn „Hund“, wenn er entgegen den Gebäuchen sein Essen mitten auf dem Markt verzehrte. Diogenes aber nannte diejenigen Hunde, die ihm dies vorwarfen: Sie hätten sich um ihn gedrängt, nur um ihm beim Essen zuzusehen. Die Spannungen zwischen Individuum und Gesellschaft treten bei dieser antiken Existenz voll zutage, und Diogenes hat nicht das Geringste dafür getan, sie zu verringern, ganz im Gegenteil: Mitten in der Vielgeschäftigkeit der Gesellschaft — auf dem Marktplatz — bewegt er sich und repräsentiert das Ärgernis. Er spuckt der satten, selbstzufriedenen, ignoranten Gesellschaft ins Gesicht, die ihren kleinen Lüsten folgt, in ihren materiellen Gütern erstickt und dabei glaubt, alles sei nur eine Frage des Geldes. Er „prägt die Münze um“, um mit seiner Selbstbeherrschung der Herrschaft gesellschaftlicher Strukturen etwas entgegensetzen zu können.

In seiner ganzen Lebensweise inkarniert der Kyniker das Gegenteil zur herrschenden Ethik und Ästhetik der Gesellschaft, in der er nur die „Kosmetik der Erbärmlichkeit“ sieht, wohlgeordnet und geschmückt, aber nichts dahinter als die pure Fassade, um die mangelnde Vortrefflichkeit zu verbergen. Er verachtet die konventionellen Güter des Glücks, die mühelose Glückseligkeit; dem Leben im Luxus zieht er die Arbeit und die Anstrengung vor und favorisiert den existentiellen Ernst gegenüber der beständigen Sucht nach Ablenkung und Unterhaltung. Als ihm niemand zuhört, während er eine ernste Rede halten will, fängt er wie ein Vogel zu trillern an: Solcherlei Exotik und Kurzweil fasziniert nun die Vielen, und als sie alle da sind, schilt er sie dafür.

Man kann nicht sagen, der Bezug zur Aktualität läge hier sehr fern. Schließlich war es das Anliegen des Diogenes, ein „naturgemäßes“ Leben zu führen — ökologisch, wie wir heute sagen würden. Als Foucault 1984 in seiner Vorlesung am Collège de France auf die Philosophie der Kyniker zu sprechen kam, interessierte er sich aber vor allem für deren Freimütigkeit, die offene Art, sich zu äußern und die Wahrheit zu sagen (parrhesia) und die Philosophie auf diese Weise als eine Form des Lebens zu begreifen. Zweifellos hat Michel Onfray, der die Kyniker in seinem Buch zum Thema macht, Michel Foucault gelesen, und er nennt ihn auch. Wie sonst käme er dazu, von der „Ästhetik der Existenz“ zu sprechen, die Foucault von der antiken Philosopie her erschlossen hat und die seither der Begriff ist, um den sich die Diskussionen drehen. Auch Onfray privilegiert, wenn er von Philosophie spricht, die Frage der Lebenskunst, des Stils, der Ausarbeitung von Verhaltensweisen, der Herstellung seiner selbst, des Bezugs zur Aktualität: Die Phiolosophie als Lebensform. Sein Ausgangspunkt ist dabei vor allem Nietzsche, dem er auch das Motto zu seinem Buch entleiht. Er publizierte 1990 einen wenig zur Kenntnis genommenen Band über den Links-Nietzscheaner Georges Palante und edierte dessen Werk über Die individualistische Sensibilität. Woher kommt es nur, daß bei Onfray der Schwanz mit dem Hund zu wedeln scheint?

Die Phiolsophie als Lebensform zu verstehen, hat Konjunktur und ist gewiß ein willkommenes Korrektiv gegenüber einer allzu akademisch gewordenen Philosophie. Aber die ganze Philosophie seit den Kirchenvätern als „Geschwätz“ abzutun, das hat mit einem Vermögen, das gerade die Philosophie der Kyniker auszeichnet, wenig zu tun: dem Differenzierungsvermögen (diakritikon). Das ist für die vorliegende Arbeit nicht ganz unerheblich, denn einer Philosophie der Lebenskunst stünde es heute gut an, darauf wieder zurückzukommen. Im übrigen wäre es lohnend zu forschen, wo denn die antiken philosophischen Übungen im Laufe der Zeit geblieben sind: man hätte es dann schwerer, über die an der Universität gebräuchlichen Übungen zu lästern, wenn diese gewiß auch reformbedürftig sind. Ebenso empfiehlt es sich, die Verbindungen zwischen Griechentum und Kynismus genauer zu analysieren, statt über diese arme Institution, die das lebende Museum antiker Formen ist, nur herzuziehen.

Das alles verweist auf das Problem, das man mit Onfrays Buch hat: kann man ein Buch über einen antiken Philosophen schreiben, ohne die in Frage stehenden Quellen im Original zu lesen? Nur um den Preis, entscheidende Begriffe und Zusammenhänge zu übersehen, da man sich völlig abhängig macht von den Übersetzungen, die immer fragwürdig sind. Immerhin fällt es auf dieser Basis leichter, sich ein Wunschbild zurechtzumalen — und anders kann der Autor auch nicht dazu kommen, vom „richtig praktizierten Kynismus“ zu sprechen, der unweigerlich, man errät es, zum „Genuß seiner selbst“ führt. Sätze von der Güteklasse: „Hat man einen gewissen Grad von Philosophie erreicht, so folgt daraus helle Freude“, sind die Regel.

Ein völliges Mißverständnis über Nietzsches Begriff der fröhlichen Wissenschaft, auf den der Autor sich gerne beruft, liegt hier grundsätzlich vor. Die Grundlage der „fröhlichen Wissenschaft“ ist eine solide Arbeit des Wissens, nicht die Aneinanderreihung hohler Sentenzen. War Onfrays vorheriges Buch über den Bauch der Philosophen wenigstens noch amüsant, so ist dieses hier in der Hauptsache uninteressant. Wie könnte eine Philosophie heute beschaffen sein? So bestimmt nicht.

Onfrays Buch ist für ein breites Publikum geschrieben, und um überhaupt mit dem Kynismus bekanntzuwerden, mag es seinen Zweck erfüllen — allerdings existiert da schon eine vergleichbare Arbeit von Carl Wilhelm Weber, die 1987 erschien und als Taschenbuch neu aufgelegt wurde. Für weitergehende Interessen ist nach wie vor das große Werk von Heinrich Niehues-Pröbsting unumgänglich, das einer neuen Beschäftigung mit dem Kynismus überhaupt den Weg bereitet hat: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus. Und um mit der Forschung und dem Forschungsstand vertraut zu werden, ist der neu erschienene Sammelband von Margarethe Billerbeck zu empfehlen, in dem die wichtigsten Aufsätze vor allem des 20. Jahrhunderts nachgedruckt sind. Das Buch der — zusammen mit Marie-Odile Goulet-Gazé — wohl besten Kynismus-Kennerin ist mit einer vorzüglichen Einführung und einer umfangreichen Bibliographie ausgestattet, in der auch die Literatur in russischer und polnischer Sprache berücksichtigt wurde. Man wird nicht nur damit bekannt, daß der Kynismus eine Lebensform ist und mit welcher Lehre er verbunden war, sondern wie problematisch es überhaupt ist, etwas Gesichertes darüber zu wissen, da die Überlieferung nicht auf zuverlässigen Texten beruht. Danach kann man sich dann an die Arbeit machen. Wilhelm Schmid

Michel Onfray: Der Philosoph als Hund · Vom Ursprung des subversiven Denkens bei den Kynikern. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Campus Verlag, 215 Seiten, 29,80DM

Margarethe Billerbeck (Hrsg.): Die Kyniker in der modernen Forschung. Verlag B.R. Grüner,

Amsterdam 1991, 324 Seiten,

80DM