: „Wenn Mappus fällt, dann wird Geschichte auf ein neues Blatt geschrieben“
MACHTKÄMPFE Was bringt 2011? Daniel Cohn-Bendit über die Bürgerbewegungen und die schwere Aufgabe für den neuen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg
Sieben Landtagswahlen stehen 2011 an. Nicht nur unser Gesprächspartner Daniel Cohn-Bendit, 65, ist gespannt. Er ist Fraktionsvorsitzender der Grünen im EU-Parlament. 1968 führte er den Pariser Mai-Aufstand an, der zu politischen und gesellschaftlichen Reformen in Frankreich führte Foto: Anja Weber
INTERVIEW PETER UNFRIED
taz: Lieber Daniel Cohn-Bendit, lassen Sie uns in das Jahr 2011 hineinblicken: Was wird aus den neuen Bürgerbewegungen?
Daniel Cohn-Bendit: Erst mal muss man die Bürgerbewegungen unterscheiden. Die in Hamburg gegen die Primarschule war eine elitäre, egoistische. Die gegen Stuttgart 21 ist eine Mischung aus konservativ und fortschrittlich. Dann gibt es die Renaissance der Anti-Atom-Bewegung. Und es gibt eine ganz starke reaktionäre Bürgerbewegung, die Sarrazin-Bewegung, beheimatet in FAZ und Bild-Zeitung, bei der Unterschicht und Oberschicht zusammenfinden. Diese widersprüchlichen Bürgerbewegungen wird es weiter geben, sie sind Ausdruck einer generellen Unsicherheit der Menschen, die sich in unterschiedliche Richtungen bewegen.
Der Sozialphilosoph Oskar Negt spricht von einer res publica amissa, einer ausgehöhlten Republik. Ausgang: unklar.
Es stimmt: Republikanische Tugenden stehen in Deutschland auf wackligen Beinen. Freiheit ist anstrengend. Wir haben es mit zwei Grundrichtungen zu tun: Viele Menschen fühlen sich übermäßig angestrengt und tendieren dazu, für die Vereinfachung die Einschränkung ihrer Freiheit zu akzeptieren, wenn sie nicht mehr solchen Anstrengungen ausgesetzt werden. Und die Renaissance der Grünen und eines Teils der Linken rührt daher, dass sich ein Teil der Bevölkerung dieser Anstrengung stellen möchte. Dies ist zumindest meine optimistische zeitgeschichtliche Interpretation.
Die Anstrengungsbereiten führen einen Machtkampf mit Parteien und Regierungen?
Ja. Die Bürger haben einen Machtkampf gegen die regierenden Parteien in Hamburg angezettelt – und gewonnen. Die Bewegung gegen S 21 ist auch ein Machtkampf. Es gibt verschiedene historische Momente, wo es solche Machtkämpfe gab. Die Studentenbewegung von 1968 war auch ein Machtkampf, gegen die große Koalition.
1968 gab es die Angst vor der Wiederkehr des Faschismus und den Marxismus als verschwommene Systemalternative.
Und heute hast du die Angst vor der Globalisierung oder Modernität. Und die Überwindung ist die ökologische Transformation.
Die Stuttgarter vor dem Bahnhof wollen doch nicht den Mappus-Kapitalismus durch Kretschmanns ökologische Transformation überwinden.
Doch, im Grunde schon. S 21 ist ein Projekt der 80er Jahre, ein Anachronismus. Trotzdem habe ich in dieser Sache Bauchschmerzen. Der Kabarettist Matthias Beltz hat mal gesagt: In Deutschland ist es leichter, sechs Millionen Bäume zu retten als sechs Millionen Juden.
Sie spielen auf die Inbrunst an, mit der manche S 21-Gegner um die Bäume im Schlossgarten kämpfen.
Sagen wir so: Das Faszinierende ist die emotionale Radikalität. Aber genau diese emotionale Radikalität ist auch die Sperre zu einer rationalen Verarbeitung. Deswegen wird der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann alle seine rhetorischen und politischen Fähigkeiten aufbringen müssen, um rational aus dem Konflikt rauszukommen.
Ist der Grüne Kretschmann nicht auf andere Art genauso 20. Jahrhundert wie der amtierende CDU-Ministerpräsident Mappus?
Nein. Winfried Kretschmann ist als Ökolibertärer und Katholik mit dieser ganzen christlichen Wehmut die ideale ökologische Persönlichkeit. Er signalisiert: Bei aller Transformation will ich, dass dieses Gefühl des Aufgehobenseins in Baden-Württemberg weiter bleibt.
Skizzieren Sie doch mal die Entwicklung bis zur Wahl in Baden-Württemberg am 27. März.
Die CDU ist hart getroffen von diesem Wutbürger von rechts: Sarrazin und Hamburg sind die besten Beispiele. Man weiß es zwar nie, aber wenn ich in meine Kristallkugel blicke, dann sehe ich eine CDU, die im Februar in Hamburg 15 bis 20 Prozent verliert, es folgt dort eine Renaissance von Rot-Grün unter ganz anderen Bedingungen als früher. Und dann kommen die Iden des März.
Damals wurde Caesar erdolcht. Diesmal: Mappus?
Es geht um mehr: Wenn die FDP unter 5 Prozent fällt, ist das bürgerliche Lager erdolcht. Grüne bei 30, SPD bei 20, dann wird die Geschichte auf ein neues Blatt geschrieben. Selbst wenn die SPD aus Angst vor der neuen Zeitrechnung in den Schoß der CDU schlüpft, verschwimmen die Orientierungsmarken der Nachkriegszeit.
Warum?
CDU/SPD ist perspektivlos für den Bund. Und wenn die FDP aus dem Stuttgarter Landtag verschwindet, muss sie bei null wieder anfangen. Dann hätte die CDU keinen Koalitionspartner mehr. Das wäre das Spannendste, was der Bundesrepublik passieren kann. Dann müssen sich alle bewegen.
Oder zurückbewegen zu einer rot-grünen Revivaltour, obwohl etwa die Grünen in Baden-Württemberg wenig Respekt für die SPD haben.
Das hängt mit der katastrophalen Politik der SPD zu Stuttgart 21 zusammen. Und die SPD hat schon 1995 Rezzo Schlauch als OB verhindert, sie hat Özdemirs Bundestagsmandat 2009 verhindert. Das war kleinbürgerliche, unpolitische Dickköpfigkeit.
Ein Revival wäre jedenfalls nicht mehr made in Heaven.
Aber es ist Heaven für die SPD. Die Wahl in Hamburg ist für sie Gottes Gnade. Wenn sie da deutlich mehr Stimmen hat als die Grünen, leidet sie weniger und kann Grün-Rot in Stuttgart schlucken. Auch die Wahl in Berlin im September wird spannend. Was machen die Grünen, wenn Renate Künast zwei Prozent hinter Wowereit liegt, aber mit der CDU regieren könnte?
Mit der CDU als Juniorpartner regieren?
Tja. Künast kann gewinnen, wenn sie Teile des linken Wählerpotenzials mobilisiert. Deswegen ist eine Öffnung zur CDU ein Widerspruch. Und sie muss einen ernsten Wahlkampf mit einem spielerischen Moment der Dynamik verknüpfen. Sie muss das Gefühl erzeugen: Künast als Regierende – das wollen wir mal sehen!
Wie lange hält die neue Polarisierung Union vs. Grüne?
Das muss man sehen. Die Führungsriege um Angela Merkel ist viel offener für die Zukunft, als es die rückwärtsgewandte Rhetorik der Kanzlerin derzeit ist. Die Union hat jedenfalls klar positionierte Zukunftspersönlichkeiten: Guttenberg ist die konservativ-moderne Zukunft. Röttgen ist die ökologisch-konservative Zukunft. Das sehe ich bei der SPD nicht. Dieser konservative, christliche Sozialdemokratismus einer Andrea Nahles schwimmt in der Mitte.
Wie kommt es, dass die Grünen als kleinste Partei im Bundestag plötzlich die Chance haben, 2011 den großen Sprung zu schaffen?
Die Grünen reden – mal inhaltlich besser, mal nicht so gut – seit 20 Jahren über die Themen, über die jetzt alle reden. Sie haben die ökologische Transformation besetzt, sie haben klargemacht, dass sie bereit sind, die Widersprüche im Verhältnis von Bewahren und Verändern zu überwinden. Deshalb ist die Linke auch auf dem Abstellgleis. Die Frage ist nicht mehr, ob man für oder gegen Kapitalismus und Marktwirtschaft ist, sondern: Wie kann und muss man die Marktwirtschaft und den Kapitalismus regulieren – global, europäisch, national, lokal –, damit wir dieses System wieder rational in den Griff kriegen? Im Weltmaßstab ist die soziale Frage auch eine ökologische Frage. Und die Grünen haben sich selbst nicht opportunistisch verändert, seit sie aus der Bundesregierung raus sind.
Darüber gibt es geteilte Meinungen.
Bei der taz vielleicht. Aber ich muss Ihnen sagen: Das wird im aufgeklärten Bürgertum anders wahrgenommen.
Ist es nicht irritierend, wenn nach dreißig Jahren Kärrnerarbeit die Zustimmung von 10 auf 30 Prozent steigt – wegen eines Bahnhofstreits?
Sie machen einen Denkfehler. Politische Zeitenwenden lassen sich nicht immer rational erklären. Eine Erklärung für die Dynamik in Frankreich 1968 war, dass Herbert Marcuses ‚Eros et civilisation‘ die Studentenrevolte angeheizt habe.
Ein Klassiker der kritischen Theorie.
Ja. Aber vor Mai 1968 waren von dem Buch grade mal 177 Exemplare verkauft.
An Sie?
Ich hatte ein Exemplar, hatte es aber damals noch nicht gelesen. Nach dem Sommer 1968 waren jedenfalls 250.000 verkauft. Das heißt: Die Bewegung hat sich dann selbst eine Erklärung gesucht. Die emotionale Konstellation 2010 war so, dass ein von Moderne und Globalisierung verunsicherter Teil der Bürger gesagt hat: So, jetzt reicht’s. Und das hat sich entzündet an Stuttgart 21. Es kann sich 2011 an anderen Dingen entzünden – neben der langfristigen Entwicklung der Atomdebatte.
Sie brächte ein Tiefbahnhof in Stuttgart nicht um den Schlaf?
Manchmal ist etwas für dich selbst nicht so wichtig, aber es verändert das Bewusstsein von Vielen. Diese Menschen haben durch den Entzündungsanlass plötzlich akzeptiert, dass sie sich in eine bestimmte Richtung bewegen wollen – und jetzt machen sie es. Darum geht es.
Dann hätte der Anlass S 21 einen neuen Teil der Gesellschaft zu grundlegender individueller und gesellschaftlicher Evaluierung veranlasst.
In Stuttgart haben bei der Bundestagswahl 2009 auch schon 30 Prozent mit der Erststimme Cem Özdemir gewählt. Wir sind hier bei der Uraltdebatte, dass die Ökologie weder links noch rechts ist und nicht in Klassen zu erklären und in den unterschiedlichen Interessen derer, die oben, und derer, die unten sind. Sie stellt die Grundfrage nach dem Überleben der Spezies. Das trifft die unten härter als die oben, aber generell trifft es alle. Es ist klar, dass in Baden-Württemberg sich viele von der CDU vorstellen können, zu den Grünen zu gehen, aber sich nie vorstellen könnten, zur SPD zu gehen. So einen Wechsel verhindert immer noch die alte Dichotomie der Politik. Das wollen sie nicht. Sie interpretieren oder projizieren in die Grünen, dass etwas Neues für sie beginnen könnte. Es scheint, als ob sie bereit wären, über ihren Schatten zu springen.