■ Lesetip: Wenn Freisetzungen zum Alltag gehören
Derzeit werden in der Bundesrepublik neue Anträge für Freisetzungsexperimente mit genmanipulierten Pflanzen gestellt. Es werden nicht die letzten sein. Mit dem neuen Gentechnikgesetz wird die Anzahl derartiger Experimente auch bei uns zunehmen. Das Szenario wird dann langsam zur Normalität werden: BetreiberInnen beteuern den Nutzen und die Ungefährlichkeit ihrer Versuche, KritikerInnen warnen insbesondere vor den ökologischen Gefahren für die Umwelt. Für die Mehrheit der Bevölkerung allerdings handelt es sich bei dieser Diskussion immer noch um einen schwer verständlichen Streit unter ExpertInnen.
Einen unkonventionellen, aber spannenden und informativen Weg, die Probleme der Freisetzung genmanipulierter Organismen zu veranschaulichen, hat Bernhard Kegel, studierter Chemiker und Biologe, mit seinem kürzlich erschienenen Roman „Wenzels Pilz“ gewählt. Oberflächlich betrachtet ist es ein Science-fiction-Szenario, das wenige Jahrzehnte von uns entfernt liegt. Gentechnik ist in vielen Bereichen des Lebens zur Normalität geworden. Zahlreiche Nahrungsmittel werden gentechnisch hergestellt, nur in sehr teuren Restaurants kann garantiert unmanipuliertes Essen bestellt werden. Unbeabsichtigte Freisetzungen gentechnisch manipulierter Organismen durch größere oder kleinere Produktionsunfälle ereignen sich periodisch und haben ein mehr oder weniger erfolgreiches Krisenmanagement der jeweiligen Firma zur Folge, ähnlich wie die heutigen Chemie- oder AKW-Unfälle. Gentechnische Schöpfungen werden zur Bewältigung zahlreicher Umweltprobleme eingesetzt.
Da ist zum Beispiel der leidige saure Regen, der in Norwegen große Waldbestände vernichtet. Mit Hilfe der Gentechnik wird also ein säureresistenter Baum konstruiert, um damit ausgedehnte Gebiete wiederaufzuforsten. Alles verläuft bestens. Aber: Nach einigen Jahren wachsen auch diese Bäume nur noch kümmerlich. Untersuchungen ergeben, daß ihnen ein geeigneter Partnerorganismus fehlt. Die Firma Gentel (Genetik und Intelligenz) betraut ihren Mitarbeiter Dr. Wenzel mit der Lösung des Problems. Dieser konstruiert einen selbstverständlich ebenfalls gentechnischen Pilz, der in den betroffenen Waldgebieten freigesetzt wird. Wenige Jahre später treten aber auch hier Folgeprobleme auf, und Wenzel muß sich zu seinem großen Leidwesen – sein Forscherehrgeiz strebt eigentlich nach Höherem als dem andauernden Ausbaden von Fehlern – noch einmal mit der Sache befassen. Und wieder der gleiche Lösungsansatz: Eine gentechnisch manipulierte Fliege soll die Firma vor weiteren Schadensersatzforderungen retten. Flankiert wird die Geschichte von einem neugierigen Journalisten, der auf einer Urlaubsreise die befallenen Waldgebiete entdeckt, einer Untergrundliga, die sich der militanten Bekämpfung der Gentechnik verschrieben hat, einer UNO-Organisation, die sich um die Kontrolle und Registrierung aller gentechnischen Neuschöpfungen und ihrer Unfälle bemüht, und zahlreichen weiteren AkteurInnen. Wie das alles ausgeht, soll hier nicht verraten werden.
Die Geschichte ist ein wahres Lehrstück über den fast unlösbaren Widerspruch zwischen den eindimensionalen Ursache-Wirkung-Denkschemata der Gentechnik und den komplizierten und so häufig unverstandenen Wechselwirkungen in komplexen Ökosystemen. Wie nah sich das alles an der Wirklichkeit bewegt, mußte der Autor zu seiner eigenen Überraschung feststellen, als er einige seiner Phantasieprodukte bei genauerem Suchen so oder ähnlich bereits in der wissenschaftlichen Literatur wiederfand.
Ein spannendes Buch, dessen leichte Verständlichkeit nicht auf Kosten seiner wissenschaftlichen Fundierung geht. Es veranschaulicht, was bei der derzeitigen Entwicklung bereits in wenigen Jahren auf uns zukommen könnte. Auch LeserInnen, denen die Themen Gentechnik oder Freisetzungen bisher kompliziert und unverständlich schienen, kann das Buch vorbehaltlos empfohlen werden. Claudia Schulze
Bernhard Kegel: „Wenzels Pilz“. Roman. 415 Seiten, Piper, München 1993, 16,90 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen