Weniger Druck, noch weniger Effekt : Bürgergeld besser als Hartz IV?
Ein neues Bürgergeld soll das Arbeitslosengeld II ersetzen. Doch es hilft nicht nur zu wenig gegen Armut, es hat einen entscheidenden Konstruktionsfehler.
Von UDO KNAPP
taz FUTURZWEI, 26.07.22 | Ein Bürgergeld soll 2023 das Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) ersetzen. Die SPD hofft, dass sie mit diesem Bürgergeld den ihr mit der Einführung von Hartz IV angehängten Makel einer unangemessenen sozialen Härte bei ihren Wählern loswerden kann. Die zentrale Frage aber ist, ob mit dem Bürgergeld den 3.583.178 Beziehern von Hartz IV und den 860.000 Aufstockern (darunter etwa 60 Prozent alleinerziehende Frauen) ein Weg zu würdevoller und selbstbestimmter Arbeit eröffnet wird. Schauen wir uns die Sache im Einzelnen an.
Unter dem Leitbegriff „Respekt“ und „mehr soziale Sicherheit“ werden einige Entlastungen für die Bürgergeldbezieher-Bezieher vorgeschlagen. So sollen sie in den ersten zwei Jahren des Hilfebezuges nicht mehr gezwungen werden, ihre Wohnung aufzugeben, wenn sie über die Angemessenheitsgrenze hinaus zu groß ist. So soll nur Vermögen über 60.000 Euro vor dem Hilfe-Bezug aufgebraucht werden, die Größe des Autos nicht mehr auf „Angemessenheit“ geprüft und der Freibetrag für ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft auf 15.000 Euro im Jahr erhöht werden. So sollen Jugendliche, die in Bürgergeld-Haushalten leben und neben der Schule oder dem Studium einen Minijob ausüben, die volle Höhe ihres Verdienstes behalten dürfen, das meint 520 Euro statt bisher 170 Euro. Der Regelsatz von jetzt 449 Euro bei Hartz IV soll im Bürgergeld um etwa 50 Euro erhöht werden, wobei die Berechnungsgrundlagen noch nicht feststehen.
Ein entbürokratisiertes Hartz IV
Das Förderkonzept „Sozialer Arbeitsmarkt“, das bisher nur bis 2024 finanziert ist und den FDP-Chef Lindner demontieren will, soll auf Dauer gestellt werden. Der Druck auf die Bürgergeldbezieher und Sanktionen bei Verweigerung der Zusammenarbeit mit den Jobcentern bei der Arbeitssuche sollen reduziert werden. Im ersten halben Jahr des Regelbezuges, einer Vertrauenszeit, sollen Sanktionen des Jobcenters unterbleiben. Erst danach sollen Leistungskürzungen bis zu 30 Prozent wieder möglich werden. Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) geht davon aus, dass die Bürgergeldbezieher mehr eigenverantwortlichen Freiraum bekommen, ihre Arbeitsuche in eigener Initiative zu gestalten. Die Eigeninitiative soll auch durch die Digitalisierung der Antragstellung gestärkt werden.
Dieses neue Bürgergeld ist letztlich das alte Hartz IV, nur an einigen Stellen entbürokratisiert. Seine Regelsätze werden, soweit bisher bekannt, nur so moderat erhöht (um etwa 50 Euro), dass damit noch nicht einmal die aktuelle Inflation ausgeglichen werden könnte. Die Probleme, die 2005 mit der Einführung von Hartz IV aufgehoben werden sollten, werden auch mit dem Bürgergeld nicht gelöst.
Mit der damals abgeschafften Arbeitslosenhilfe wurden Unvermittelbare, Kranke, Teilbehinderte und andere – die große Mehrheit waren Langzeitarbeitslose – in Hartz IV überführt und, wenn auch nicht auskömmlich, so doch immerhin basisversorgt.
Vielen Menschen wird auch ein Bürgergeld nicht helfen
Für diese Gruppe hat Hartz IV als Brücke zurück in den Arbeitsmarkt nicht funktioniert. Ihre Zahl ist erst gesunken, dann aber in den letzten Jahren wieder kontinuierlich gestiegen bis auf 1,03 Millionen 2021. Viele aus dieser Gruppe brauchen kein Bürgergeld. Sie brauchen ein Hilfesystem, das sie grundsätzlich vom Zwang freistellt, auf dem regulären Arbeitsmarkt zu funktionieren und sie stattdessen professionell betreut.
Das Abstandsgebot zwischen den Hartz IV-Bezügen und den Nettoeinkommen in den niedrigsten Einkommensgruppen wurde in der gesamten Laufzeit nicht eingehalten. Hartz IV-Bezieher haben zwar weniger netto als die Bezieher von Gehältern auf Mindestlohnniveau, anders als die Arbeitenden, die alle ihre Nebenkosten aus ihren Gehältern begleichen müssen, haben sie Zugang zu vielen entlastenden Sozialleistungen. Dass sich unter solchen Bedingungen viele eher auf ein dauerhaftes Leben mit Hartz IV eingestellt haben, ist nachvollziehbar.
An diesem systemisch nur schwer auszugleichenden Ungleichgewicht ändert das neue Bürgergeld nichts. Auch die Erhöhung des Mindestlohnes wird daran wenig verändern. Eine Erhöhung des Selbstbehaltes, etwa wenn Hartz IV-Bezieher Minijobs annehmen wollen, ist weiter so restriktiv geregelt, dass es sich einfach nicht lohnt.
Steigenden Nachfrage nach minderqualifizierten Arbeitskräften
Die Sanktionen bei Verweigerung der Kooperation mit den Jobcentern haben nicht zu erhöhten Vermittlungszahlen geführt. Das hat auch daran gelegen, dass diese Sanktionen jahrelang Gegenstand polemischer Erzählungen von der sozialen Kälte der Jobvermittler und des Hartz IV-Systems gewesen sind. Aber an dieser Wahrnehmung wird sich nichts ändern, wenn die sechs Monate sanktionsfreier Vertrauenszeit vom Bürgergeld-Bezieher nicht für eine erfolgreiche Arbeitssuche genutzt werden konnten.
Der Arbeitsmarkt wird heute nicht nur vom Fachkräftemangel, sondern auch von der steigenden Nachfrage nach minderqualifizierten Arbeitskräften bestimmt. Das hat sich nach dem vorläufigen Abflauen der Corona-Pandemie erstmals deutlich gezeigt. Viele Restaurants müssen schließen, weil sie keine Arbeitskräfte in ihren Küchen oder im Service finden. Für viele Arbeitswillige wird es in naher Zukunft wegen der demographisch bedingten Verkleinerung des Arbeitskräftepotenzials einfacher sein, in allen Lohnsegmenten gut bezahlte Arbeit zu finden, wenn sie denn wollen.
Sinnvolle Ausweitung des „sozialen Arbeitsmarktes“
Vor diesem Hintergrund motiviert es arbeitslose Arbeitnehmer nicht, wenn das Nutzen von Hilfesystemen bei Arbeitslosigkeit erleichtert und das als sozialer Fortschritt verkauft wird. Wichtiger wäre es, statt weiter Arbeitslosigkeit zu finanzieren, zusätzliche Arbeit im normalen Arbeitsmarkt zu fördern. Es gälte, die Arbeitgeber bei den Lohnkosten einer Einstellung von Arbeitslosen deutlich zu entlasten. Weiterbildung, Umschulung und Ausbildung müssten massiv und auch unkonventionell gefördert werden. Solche Ausbildungszeiten könnten für diejenigen, die sich darauf einlassen, deutlich attraktiver als Bürgergeldbezug vergütet werden.
Der heute schon wirkungsvolle „Soziale Arbeitsmarkt“ könnte in vielen öffentlichen Bereichen sinnvoll ausgeweitet werden. Wenn es ein so breites, Chancen eröffnendes Angebot an Unterstützung zur Arbeit gäbe, dann wären auch Sanktionen gegen diejenigen gerechtfertigt, die sich weigern, solche Angebote anzunehmen. Das wäre dann keine soziale Kälte, sondern würde nur dem Prinzip der Subsidiarität Rechnung tragen. Das neue Bürgergeld ist indes von einem sozial verantwortlichen Ansatz konkreter Hilfe zur Selbsthilfe weit entfernt.
UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.