Weniger Chancen: Senat will lieber keine Behinderten
Hamburg plant, frei werdende Stellen nicht mehr an die Arbeitsagentur zu melden. Das bringt schwerbehinderte Interessenten um ihr festgeschriebenes Recht auf ein Bewerbungsgespräch.
HAMBURG taz | Inklusion ist in aller Munde, heute stellt Hamburgs Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) seine Pläne vor, wie er Jobs für Schwerstbehinderte auf dem freien Arbeitsmarkt schaffen will. Der Grüne Abgeordnete Anjes Tjarks spricht von „Heuchelei“. Denn just der gleiche SPD-Senat treffe hinter den Kulissen Vorbereitungen, Menschen mit Behinderungen „von ihren Bewerbungsmöglichkeiten fernzuhalten“.
Tjarks bezieht sich auf den Entwurf einer Drucksache, in der die Hamburger Landesregierung darlegt, wie sie bis zum Jahr 2020 mindestens 2.500 Stellen abbauen kann, um die Schuldenbremse einzuhalten. Neben Abfindungen für städtische Beschäftigte soll es nun neu die Möglichkeit geben, freie Stellen „behördenintern auszuschreiben“.
Der Arbeitsagentur sollen diese Stellen nicht gemeldet werden. Würden sie gemeldet, so hätten alle schwerbehinderten Interessenten das Recht, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Das geht aus Paragraf 82 des neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX) zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen hervor. Dies gilt nur dann nicht, wenn „die fachliche Eignung offensichtlich fehlt“.
In Hamburg sind derzeit 3.604 Menschen mit Behinderung arbeitslos gemeldet.
Die Stadt selbst sieht sich in einer Vorbildfunktion. Laut Landesplan Inklusion vom Februar 2012 hat Hamburg sich verpflichtet, sechs Prozent der Stellen im öffentlichen Dienst mit Menschen mit Behinderungen zu besetzen. Die bundesgesetzliche Quote liegt bei fünf Prozent.
Das Sozialgesetzbuch nennt besondere Pflichten der öffentlichen Arbeitgeber. Sie müssen alle frei werdenden Arbeitsplätze melden und schwerbehinderten Interessenten zu einem Vorstellungsgespräch einladen.
Die neue Initiative: Mit 1,3 Millionen Euro aus einem Bund-Länder-Programm werden jetzt 30 Ausbildungsplätze und 100 Jobs gefördert. Pro Platz gibt es bis zu 10.000 Euro.
Doch die Hamburger Verwaltung will sich die Mühe dieser Gespräche offenbar sparen. Zwar bestehe ein „rechtliches Risiko“, dass die Stadt von Betroffenen wegen Diskriminierung zu Schadenersatz verkldagt werden könne, das sei aber „hinnehmbar“, heißt es in dem Papier, das der taz vorliegt. Es gebe bislang noch keine Gerichtsentscheidung zu solch einem Fall.
Die Grünen-Fraktion wertet dies als soziale Bankrotterklärung. „Der Senat hat die Aufgabe, vor Diskriminierung zu schützen“, sagt deren Sozialpolitikerin Katharina Fegebank. „Aber hier will er Ausgrenzung offenbar selbst betreiben und hofft, dass keiner gegen diese Praxis klagt.“ Der Sozialsenator müsse die Drucksache stoppen, ergänzt Fraktionskollege Tjarks. Andernfalls sei seine Inklusionsinitiative nicht ernst zu nehmen.
Da es sich um ein Papier des Senats handelt, muss offiziell nicht die Sozialbehörde, sondern die Senatspressestelle Stellung nehmen. Dessen Sprecher Jörg Schmoll wollte sich zu den Vorwürfen nicht äußern. „Die Drucksache ist noch in der Behördenabstimmung“, sagt er. Solange dies der Fall sei, werde man dazu nichts sagen.
Die Arbeitsrechtlerin Barbara Ede sieht in der Vorlage einen Widerspruch zum Paragraf 82 SGB IX. „Ohne sachliche Gründe ist es nicht gerechtfertigt, frei werdende Stellen der Arbeitsagentur nicht zu melden.“ Das habe das Bundesverwaltungsgericht entschieden. Als sachlicher Grund galt in dem Verfahren, dass es um eine Stelle beim Auslandsnachrichtendienst ging. Solche Gründe müssten „im Einzelfall dargelegt werden“, so Ede.
In Hamburg gibt es 3.600 behinderte Menschen, die arbeitslos sind. Mit der heute gestarteten „Initiative Inklusion“ sollen 30 Ausbildungsplätze und 100 Jobs für ältere schwerbehinderte Menschen geschaffen werden. Für jeden Platz gibt es bis zu 10.000 Euro Zuschuss aus einem Bund-Länder-Programm. Senator Scheele nannte dies ein „deutliches Signal“. Bei steigendem Fachkräftemangel könne man es sich nicht erlauben, auf diese hoch motivierten Menschen zu verzichten.
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