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Archiv-Artikel

Sprinterin Merlene Ottey Weltrekordlerin hinterm Deich

Es sieht doch so aus: Im Blickfeld des Publikums sind während eines 100m-Laufs bestenfalls die drei Erstplatzierten. Wer als Vierter die Ziellinie passiert, schafft es schon nicht mehr in das Gedächtnis des Betrachters. Die langsamsten Athleten, ob nun bei Männern oder Frauen, erleben den Sport in seiner ganzen Unbarmherzigkeit. Einige mitleidige Blicke der Zuschauer, etwas Applaus zur Aufmunterung, dazu tröstende Worte der Liebsten – das war‘s.

Am Freitagabend, auf dem Strichweg-Sportplatz in Cuxhaven, kam alles ganz anders. Beim dortigen Leichathletik-Meeting unter dem Motto „Weltklasse hinterm Deich“ wurde die Vorletzte des zweiten Zeitlaufs frenetisch gefeiert. Eine Zeit von 11,84 Sekunden hatte sie zustande gebracht, aber dafür gebührten ihr nicht die Ovationen. Merlene Ottey, die „schnelle, alte Dame der Leichtathletik“, wurde für ihre Erfolge der Vergangenheit gefeiert. Die 46 Jahre alte gebürtige Jamaikanerin, die seit 2002 für ihre Wahlheimat Slowenien an den Start geht, dürfte sich ein wenig wie ein ergrauter Hollywood-Star gefühlt haben, der gerade den „Oscar“ für sein Lebenswerk in Empfang genommen hat.

Grau ist sie noch nicht, schnell allerdings auch nicht mehr – zumindest nicht, wenn die Weltspitze über 100 Meter als Maßstab dient. Ottey benötigte 83 Hundertstel Sekunden mehr als 1999, als sie mit 11,01 Sekunden in Cuxhaven einen Streckenrekord aufstellte. Diese Bestzeit hat noch immer Bestand. Damals fand Ottey nur den Weg an die Nordsee, weil sie sich mit Meeresschlick ihr lädiertes Bein erfolgreich behandeln ließ. Dieses Mal hatte ihr die Ereignisarmut in ihrem Leben Beine gemacht.

„Mir war es zu Hause in Ljubljana zu langweilig, da musste ich wieder anfangen“, begründete sie ihren Rücktritt vom Rücktritt, welchen sie bei den Olympischen Spielen in Athen 2004 nach dem Halbfinal-Aus über 200 Meter verkündet hatte. Anfang Juni dieses Jahres gab sie in Madrid über 100 m ihr Comeback. Sie erreichte in schwachen 11,94 Sekunden das Ziel. In einem Monat wird sie für Slowenien bei der Europameisterschaft in Göteborg an den Start gehen.

34 Medaillen hat Merlene Ottey seit 1980 bei Großereignissen gewonnen. Über ihre Laufbahn legte sich zum Jahrtausendwechsel allerdings ein Schatten. Sie stand unter Doping-Verdacht. 2002 wurde sie offiziell von den Doping-Anschuldigungen freigesprochen.

Vor ihrem Start in Cuxhaven hatte sie Großes angekündigt. „Meine Zeit in Madrid können wir schnell vergessen. Ich möchte den Zuschauern in Cuxhaven einen neuen Weltrekord schenken“, sagte Ottey. Sie hat Wort gehalten – irgendwie. Merlene Ottey verbesserte ihren eigenen Weltrekord in der Klasse über 45 Jahre gleich um eine Zehntel Sekunde. CHRISTIAN GÖRTZEN