KOMMENTARE: Weiter so — Deutschland?
■ Die Hamburg-Wahl offenbart eine tiefe Ratlosigkeit des bundesdeutschen Wahlvolks
Stimmen verloren — Wahl gewonnen: Hinter dem strahlenden Sieg der Hamburger SPD verbergen sich die stille Verzweiflung und eine tiefe Ratlosigkeit der WählerInnen dieser nordeuropäischen Metropole. Hamburg boomt und baut wie lange nicht, produziert aber neben Millionären, Teilzeitarbeit und Facharbeiterüberstunden auch neue Umweltschäden und Arme.
Der Protest, geäußert durch den drastischen Anstieg der Wahlverweigerung, blieb stumm. Rund 40 Prozent blieben der Wahl fern, stimmten ungültig oder für chancenlose Splitterparteien. Nicht, daß die Hamburger nicht gern die Wahl gehabt hätten. Doch die politische Kaste Hamburgs undDeutschlands bietet gegenwärtig nichts für eine aktive, soziale und ökologische Politik. Die deutsche Einheit, der Wandel Osteuropas, der schier unglaubliche westdeutsche Wirtschaftsboom — sie haben die politische Pause der 80er Jahre, als nur verwaltet, aber nicht gestaltet wurde, jäh beendet.
Dem bürgerlich-konservativen Schwarz-Gelb von Kohl und Lambsdorff/Möllemann wird eine aktive Zukunftsgestaltung nicht mehr zugetraut. Auch die Fundis vom anderen Ufer haben ausgespielt: Die rückwärtsgewandte, ja fast reaktionäre Linksideologie von Ditfurth bis Gysi, wird von den Menschen abgelehnt. Sie wird weder als Hoffnungsträger noch als Protestpartei ernst genommen. Wenn schon nicht in Teddy Thälmanns Hamburg, wo dann bitte sonst?
Überdeutlich wurden in Hamburg jetzt auch die Grenzen des sozialliberalen Modells aufgezeigt: Während am 2.Dezember 120.000 in Hamburg für die Genscher-FDP votierten, waren es exakt sechs Monate später gerade noch 44.000, die sich für eine wirtschaftsliberale Stadtpolitik erwärmen konnten. Selbst unter den günstigen Hamburger Bedingungen entwickelte die FDP kein konzeptionelles Profil, das Lust auf sozialliberal machen könnte.
Auch der SPD fehlt fast jeder zukunftsweisende Charme. Sie hat zwar viele Probleme genannt, ist aber von gesellschaftlichen Zukunftsentwürfen noch weit entfernt. Die SPD wurde vom Wahlvolk am wenigsten im Stich gelassen, weil soziale Kompetenz und ökologische Sensibiliät bei ihr relativ gut aufgehoben scheinen. Den Grünen wird zwar die Kompetenz der schlauesten Fragen und richtigsten Antworten zugestanden, allein das Vertrauen, dies auch in praktische Politik umzusetzen, ist noch längst nicht wiedergewonnen. Florian Marten
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