: Weiter dreht sich die Schraube
■ "The Turn of the Screw" in der Orchesterfassung von Benjamin Britten in der Kulturbrauerei
Ein weißes Kreuz leuchtet, Glocken erklingen, und Weihrauchschwaden nebeln die Zuschauer ein. Doch gegen die bösen Geister hilft das alles nichts. Wie könnte es auch, erinnern doch die Glocken an den Klang der Celesta, die ironischerweise den Gesang des Gespenstes Quint begleitet. Unentwirrbar vermischen sich Gut und Böse, Unschuld und Verdorbenheit in Henry James' Erzählung „The Turn of the Screw“. Und das Zwielicht, das über dieser Gespenstergeschichte liegt, wird durch die Gestalt der Erzählerin noch rätselhafter. Denn vielleicht ist das absolut Böse, das der jungen, unerfahrenen Gouvernante auf einem englischen Landsitz begegnet, nichts als ein Produkt ihrer überreizten Phantasie, ihre eigene verdrängte Nachtseite.
Die Vieldeutigkeit der Erzählung spiegelt sich in der Musik der Kammeroper, die Benjamin Britten 1954 komponierte. Während der Arbeit an der Oper schrieb er an seine Librettistin Myfanwy Piper, daß der Titel „genau den musikalischen Plan des Werks wiedergibt!“ Die Bewegung der sich drehenden Schraube läßt sich in der Orchestermusik wiederfinden. In fünfzehn Zwischenspielen, die die Szenen der Oper miteinander verbinden, wird das „Screw“- Thema immer neu variiert und die Spannung bis ins Unerträgliche gesteigert. Das Orchester aus dreizehn Solisten unter der Leitung von Sebastian Gottschick hält diese Spannung bis zum Ende durch. Auch die junge amerikanische Sopranistin Lori McCann, die in der Hauptrolle der Gouvernante eine Passion aus Zweifeln, Angst und aussichtslosem Kampf durchläuft, ist in jeder Sekunde des Geschehens intensiv präsent.
Das Fürchten läßt sich in einer Industrieruine genausogut lernen wie in einer Schloßruine. Auf die kahle Rückwand des Kesselhauses der Kulturbrauerei werfen die Gestalten der Sänger riesige Schatten. Als der gefährlich-verführerische Lockruf des bösen Geistes (Barry Ryan) unvermutet im Rücken der Zuschauer erklingt, geht ein leises Schauern durch den Raum. Klare Farben gibt es in Alexander Paeffgens Inszenierung nicht. Alles ist schwarzweiß und grau, nur manchmal fällt ein fahles grünliches Licht auf die Bühne. Fünf einfache schwarze Kästen sind die ganzen Requisiten. In dieser wandelbaren Geisterwelt mutieren sie problemlos von Wänden zu Betten, Schulbänken oder Koffern.
Die Kostüme von Patricia Puisy erinnern vage an die viktorianische Entstehungszeit von James' Erzählung. Als symbolisches Muster sind die Schlüssel der Haushälterin Mrs. Grose (Anke Höppner) auf ihr Kleid genäht. Die Gouvernante trägt über ihrem züchtigen schwarzen Kleid eine panzerartige Schürze. Das weiße Band, an dem sie am Anfang ins Geschehen hineingezogen wird, windet sich im weiteren Verlauf immer höher an ihrem Kleid hinauf, um ihre Gestalt herum. Am Schluß entpuppen sich selbst ihre blütenweißen Manschetten als Bänder, die schnell zu Fesseln werden. Die letzte Drehung der Schraube ist erreicht.
„The Turn of the Screw“ ist die dritte Produktion der „Neuen Opern- und Theaterbühne Berlin“, die sich 1992 mit dem Ziel gegründet hat, selten gespielte Opern einzustudieren. Die Faszination dieser Aufführung entsteht nicht nur aus dem hohen Rang der Musik und ihrer Wiedergabe, sondern auch aus dem spannenden Spiel der sechs Darsteller. Der jüngste, der dreizehnjährige Bruno Silva, zeigt in jeder Bewegung den kindlichen Charme und die Rätselhaftigkeit des Schuljungen Miles. Seinen schneidenden, klaren Sopran hat er im Knabenchor der St.-Hedwigs-Kathedrale ausgebildet. Die verhaltene Gestik der Gouvernante und der Haushälterin, ihr Händeringen und langsames Zurückweichen sind traditionelle Operngesten, die die sittsame Zurückhaltung der viktorianischen Damen genau wiedergeben. Wenn Lori McCann die Handgelenke zum Kreuz verschränkt, ohne dadurch die Gespenster abwehren zu können, zeigt diese kleine Bewegung ihre ganze gehemmte Hilflosigkeit. Das Behextsein der Kinder spiegelt sich im wilden Zittern vor den Stimmen der Geister, aber auch in sanfteren Gesten. Miles hat eine Art, seiner Schwester Flora (Ulrike Stöve) über das Haar zu streichen, die die Gouvernante ins sprachlose Entsetzen treibt. Versteckt und gleichzeitig allgegenwärtig lauert die „böse“ Sexualität in der Oper wie in Henry James' Erzählung. „I am bad“, gesteht Miles einmal der Gouvernante. Doch dann dreht sich die Schraube noch weiter, einen ganzen Akt lang bis zur Katastrophe. Das Lied, das der Junge von Quint gelernt hat, wird die Gouvernante, eine gebrochene Frau, am Ende über seiner Leiche wiederholen. Die unheimliche Drohung der Geister hat sich erfüllt: „Tag für Tag brechen wir die Schranken ..., täuschen die sorgsam wachenden Augen, die Zeremonie der Unschuld ist zerstört.“ Miriam Hoffmeyer
20.-21., 23.-24. August um 20 Uhr in der KulturBrauerei, Knaackstr. 97/ Ecke Dimitroffstr., Prenzlauer Berg, Telefon: 441 92 69/-70
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