Weihnachtsmänner, Weihnachtsfrauen (8): Warst du artig?
■ Heute: Heiligabend bei Karin Lutter
Ihr schönstes Weihnachtsgeschenk: Mit 10 Jahren hat Karin Lutter ein Akkordeon bekommen („sooo groß“). Das blödeste Weihnachtsfest?Da wird ihre Stimme dunkel und traurig: „Als ich mit sechszehneinhalb nach Osterholz in die Nervenklinik kam.“ Und dann fällt ihr noch der Transport ein. „Erst haben wir Spritzen gekriegt, dann kamen wir in Viehwagen rein und wurden nach Hessen gebracht.“
Die Kindheit in Syke bei Bremen war vergleichsweise paradiesisch: nette Pflegeeltern, zwei Fastbrüder, blondes Engelshaar bis auf die Füße, eine Katze, einen Hund, einen Vogel-der-spricht, sechs weiße Kaninchen. Weihnachten mit Schlüsselloch, Bimmel, Gabentisch, und einer weichen Schleife im Haar. Dann wurde sie blind. Dann wurde sie depressiv. Dann kam sie ins Irrenhaus, in das sie insgesamt 37 Jahre eingesperrt war. Neulich feierte sie zehn Jahre Befreiung – zehn Jahre raus aus der Langzeitpsychiatrie Blankenburg.
Weihnachten in der Klapse: „Das war das Schönste. Das war das einzigste, was da was taugte.“ Drei Tage vor Heiligabend kam der Weihnachtsmann. Ins „Gesellschaftshaus“. „Ich erkannte den natürlich an der Stimme, es war ein Betreuer.“ Weihnachtsmann: „Warst du artig?“ Karin Lutter: „Jaaa.“ Weihnachtsmann: „Dann sag mal ein Gedicht auf!“ Karin Lutter kann alle Gedichte und Lieder auswendig. „Von drauß' vom Walde komm ich her ... das Himmelreich ist aufgetan.“
Diese Jahr werden die Alten, mit denen Karin Lutter in einer Wohngemeinschaft zusammenlebt, wo man das normale Leben wiedererlernt, einen Weihnachtsbaum besorgen. Man geht Heiligabend ins Café Blau (Kaffeetrinken, Bescherung). Nachmittags kaltes Buffet. Karin Lutter läßt sich zu Hause bescheren – aus Blankenburger Tagen kennt sie noch ihre alte „Vormünderin“, die ihr versprochen hatte: „Wir vergessen dich nie.“ – „Es ist blau, aus Papier, und es gibt's in zwei Größen.“ Letztes Jahr freute sie sich sehr über einen Hunderter.
Karin Lutter kann Geld gebrauchen. Dafür kauft sie sich ihre ersten eigenen Möbel, die von keinem Sozialamt abgeholt werden können. Ein weißer Lamellenschrank! Ein weißes Bett von Ikea! Ach sie hat noch so viel nachzuholen und wird nächsten März 66. „Hauptsache gesund!“ Vor sieben Wochen hat sie mit dem Rauchen aufgehört, nach 50 Jahren und zwei Schachteln am Tag. „Ich will noch ein paar Jahre leben.“
Ihr diesjähriger Weihnachtswunsch: Frieden. Der Krieg auf dem Balkan, schrecklich, o ja, sie kriegt alles mit. „Ich habe ein Radio, einen Fernseher, CD. Zu Weihnachten bekomme ich eine Doppel-CD Volksmusik. Komisch, nicht: Ich habe noch nie einen Fernseher gesehen.“ BuS
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