Berliner Szenen: Weihnachtsessen im Prater
Liebe und Lektüre
Henning Schulz trug das Haar schnittig, hatte schöne braune Augen, früher als wir anderen eine dunkle Stimme, und er lief die hundert Meter unter dreizehn Sekunden. Als ich während der Winterdepression neulich Schulfreunde googelte, blickte er mich von einem Foto an. Augen, Haare: unverkennbar Henning. Das Bild stammte vom SPD-Ortsverband unseres Heimatkaffs. Henning kandidierte für das Amt des Bürgermeisters. Ebenso gut hätte er neuer Sprintweltmeister sein können, es hätte mich nicht überrascht.
Das alljährliche Weihnachtsessen im Prater hatte durch den Terror einen bitteren Beigeschmack. Keine gute Nachricht, nicht mal die Geburt eines Kindes, konnte das ändern. Nur der Alkohol ließ uns schließlich vergessen, da waren wir schon in den Kapitalisten rübergewechselt. Die Bar trug früher den noch bescheuerteren Namen Fleischmöbel. Wie immer ging es irgendwann um Liebe und um Lektüre. Wir müssen erst Freunde werden, um Liebende sein zu können, sagte Mareille. Klang super, würde in der Praxis aber gewiss Probleme aufwerfen. Ähnlich verhielt es sich mit der Rückkehr zu den eigenen Wurzeln, die ein französischer Soziologe in seinem Buch beschrieb. Die Rückkehr nach Reims findet nicht statt, sagte Martin und leerte sein Glas.
In der U-Bahn nach Hause, während ich noch über den Satz nachdachte und mir einfiel, dass Martin, der sein Philosophiestudium geschmissen hatte, um Schreiner zu werden, aus einem fränkischen Pastorenhaushalt stammte, unterhielten sich zwei slicke Typen über ihre Monatsgehälter. So viel verdiente ich nicht im Vierteljahr, rechnete ich aus. Ich spürte keinen Neid, nur einen leichten Nachdurst. Die Rückkehr nach Hause findet immer wieder statt, sagte ich lallend zu mir und grinste dumpf mein eigenes Spiegelbild an.
Sascha Josuweit
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