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Weichling, Gott, Supermann

Mit der Flasche zum Weltrekord: Dan O'Brien, amtierender „König der Athleten“, liebte zeitweise hochprozentige Sachen  ■ Aus St. Petersburg Jens Weinreich

Es ist die Geschichte von einem Weltrekordler, den immer mal wieder der Alkohol dahinrafft. Ein Recke von 1,89 Metern, der sich selbst einen „Weichling“ nennt. Es ist die Mär von einem, der Hollywood-Drehbücher zu Altpapier degradiert und in wenigen Sekunden Millionen verschenkt.

Dan O'Brien, den zweifachen Weltmeister im Zehnkampf, nennen sie salbungsvoll „König der Athleten“. Der 28jährige US- Amerikaner gilt als Jahrhunderttalent, als „kommender Gott der Leichtathletik“ (New York Times) – aber auch als einer, der sich nie richtig schinden mochte, „ein ungeschliffener Diamant“ (Ex-Weltrekordler Daley Thompson). Es scheint nur der Wind unberechenbarer als Dan O'Brien.

O'Brien, die Erste: Im Alter von zwei Jahren wird der Sohn einer Finnin und eines Brasilianers von einem Pärchen in Moscow/Idaho adoptiert. Auf der High-School spielt unser künftiger Held Football und Basketball und wird vom deutschstämmigen Trainer Mike Keller für den Zehnkampf entdeckt. Der schnelle Erfolg steigt dem Burschen zu Kopf. Mädchen, Diebstahl, Saufen, Raufereien – O'Brien fliegt vom College und gelobt spontan Besserung. „Eigentlich sollte ich ihn nicht mehr aufnehmen“, denkt sich Coach Keller und reicht dem jungen Wilden folgerichtig die Hand. O'Brien bedankt sich ein paar Jahre später in Tokio mit seiner ersten Weltmeisterschaft.

O'Brien, die Zweite: Bei den amerikanischen Olympia-Ausscheidungen im Juni 1992 in New Orleans liegt der Weltmeister nach sieben Disziplinen klar auf Weltrekordkurs. Die Geschichte seines Lebens war bereits an Hollywood verkauft, die Jubelfeier gerichtet: Hauptsponsor Reebok hatte an alle Zuschauer Fähnchen verteilt, sofort nach vollbrachter Tat sollten für 20 Millionen Dollar die brandheißen TV-Spots mit O'Brien und dem neuen Reebok-Schuh anlaufen. Leider vergaß der Hauptdarsteller seinen Text. Beim Stabhochsprung scheiterte unser Supermann an seiner Anfangshöhe. Aus und vorbei. O'Brien flüchtete ins Reebok-Zelt und weinte bitterlich. Derweil hatten die Manager flink sämtliche Commercials storniert. In Barcelona fanden die Olympischen Spiele ohne den weltbesten Zehnkämpfer statt. Der absolviert ein paar Werbetermine und sitzt ansonsten auf der Tribüne, wo er nur müde lächeln kann über das, was seine sonstigen Statisten auf den Wettkampfstätten zuwege bringen.

O'Brien, die Dritte: Einen Monat nach Barcelona rächte sich der wütende Ami gar schrecklich am frischgekürten Olympiasieger Robert Smelik. In Talence, Frankreich, deklassierte O'Brien den Tschechen um mehr als 500 Punkte, schaffte 8.891 Zähler und übertraf den Weltrekord des Briten Daley Thompson deutlich. „Doch das kann mir die Goldmedaille nicht ersetzen“, grämte sich unser Held.

O'Brien, die Vierte: Eugene, Oregon, WM-Ausscheidungen der US-Amerikaner im Frühsommer 1993. Dan verspürt nur wenig Lust auf einen harten Kampf. Eine Prostata-Entzündung macht ihm arg zu schaffen. Er sei ein Weichling, spotten die Kolumnisten, bis es der Rekordmann selber glaubt. „Wir können ihm doch nicht ein Seil um den Hals legen und ihn zum Start ziehen“, stöhnt Trainer Mike Keller. Den Geldgebern des Zehnkampf-Teams, Reebok und Visa, platzt der Kragen – O'Brien wittert Gefahr, gehorcht und gewinnt. Monate später holt er in Stuttgart seinen zweiten WM-Titel.

O'Brien, die Fünfte: Die Winter sind kalt in Moscow/Idaho. Verlockend warm ist es dagegen in den Bars. Dort übt sich unser Mann in seiner elften Disziplin, statt sich in der Halle zu schinden. Nach durchzechten Nächten versucht O'Brien, „Konzentrationsprobleme“ mit Tabletten zu bekämpfen. „Keine fünf Minuten“, berichtet der abtrünnige Held, habe er stillsitzen können. Coach Keller spielt erneut den Rettungsengel. O'Brien schwört, „nie mehr in eine Bar zu gehen, Auch nach dem Golfspielen hänge ich nicht mehr im Klub herum“.

O'Brien, die Sechste: „Magst du ein Bier, Dan?“ wurde er in St. Petersburg gefragt. „Nee, nee, ich bin trocken“, hat Dan nur cool gelächelt. Vor Monaten konnte er nur noch lallen, in Rußland bei den Goodwill Games sieht er die Dinge „klarer und entspannter“. Seinen Gönnern aus der Turner Company verspricht O'Brien eine „große Show“. Die hören das gern, und unser Held hält tatsächlich Wort.

100 m, Kugelstoßen, Weitsprung, Hochsprung, 400 m-Lauf, 110 m-Hürden und Diskuswurf – bis zum Stabhochsprung (dauerte bei Redaktionsschluß noch an) liegt er über seiner Weltrekordmarke. Der Stadionsprecher schreit regelmäßig den Zwischenstand heraus. „Mensch, halt's Maul“, hat O'Brien den Scharfmacher verflucht, „Ich will mich hier entspannen.“ Charming Dan – Weichling, Gott und Supermann – ist wieder auf dem Trip.

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