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Weibliche Figuren

Wie die Frauen aus der Frühgeschichtsschreibung weginterpretiert werden  ■ Von Luisa Francia

Die Frühgeschichtsforschung ist in heller Aufregung: Die bisher älteste menschliche Darstellung der Welt, ca. 30.000 Jahre alt, eine Elfenbeinplastik einer „anthropomorphen Figur“, eines „Mannes mit Löwenkopf“, muß nunmehr als Darstellung einer löwenköpfigen Frau gelten. Die älteste Menschendarstellung eine Frau! Und nicht die letzte — denn fast alle Menschendarstellungen der Frühzeit zeigen Frauen, dicke, dünne, fettsteißige, schmale. Frauen aller Art, die dann allerdings in einschlägigen Publikationen gern als „frühe Götterdarstellungen“, „Götter und Göttlein“, „anthropomorphe Figur“, „Gottheit“ oder gar „Vegetationsgottheit“ bezeichnet werden. Woher kommt eigentlich die Scheu, das Eindeutige eindeutig zu benennen?

Die Frühgeschichtsforscher haben es allerdings wirklich nicht leicht: Kaum gilt ihnen ein Forschungsergebnis als „wissenschaftlich erhärtet“, wird es durch eine neuere, genauere Untersuchungsmethode wieder in Frage gestellt. Obwohl alle Bücher und Kataloge von definitiven Aussagen über die Frühgeschichte nur so strotzen, kann die Tatsache nicht verborgen bleiben, daß jede Erkenntnis über unsere frühe Geschichte das Rätsel noch ein wenig vergrößert.

Dabei hat die Wissenschaft den letzten Schock noch gar nicht so richtig verdaut: Um die Jahrhundertwende entdeckte ein spanischer Gutsbesitzer oder vielmehr seine kleine Tochter grandiose Höhlenmalereien. Jahrzehntelang tobte in den Medien der „Mammut-Krieg“. Es wurden weder Kosten noch Mühen gescheut, um die Malereien als Fälschung zu entlarven. Umsonst. Die Malereien stammen aus der Eiszeit und wir können nun alle getrost davon ausgehen, daß die brillant gemalten Stiere, Mammuts und all die anderen Tiere vor rund 30.000 Jahren an die Wände der Höhle von Altamira gemalt wurden.

Die patriarchale Wissenschaft scheint Forschungsergebnisse nach dem Prinzip „Was nicht sein darf, kann auch nicht sein“ zu verwerten. Sie kann es offenbar einfach nicht ertragen, daß es Kunst vor der Erfindung von Kunstakademien und Museen gegeben hat. Aber noch unangenehmer scheint die Erkenntnis, daß der Zeitraum, der so gerne Vor-Geschichte genannt wird — immerhin rund 3,5 Millionen Jahre Kulturgeschichte, im Gegensatz zu schlappen zweieinhalbtausend Jahren Patriarchat —, daß dieser Zeitraum weitgehend von Frauen und deren Fähigkeiten geprägt war.

„Fast immer in der überschaubaren menschlichen jüngeren Geschichte“, schreibt der Frühgeschichtsforscher Gerd Albrecht in einem Katalog zur Ausstellung Die Anfänge der Kunst vor 30.000 Jahren über die Künstler des Magdalénien, „sind es die Männer gewesen, die den größten Einfluß auf die gesellschaftlichen Strukturen genommen haben und so das soziale Zusammenleben bestimmten[...] Damit hängt auch eine Vormachtstellung des Mannes in den 'geistigen‘ Institutionen der jeweiligen Gesellschaft zusammen, seien es nun die religiösen oder, in unserem Fall, die künstlerischen Bereiche. Soweit wir das heute feststellen können, ist der größte Teil aller Kunst von Männern produziert worden.“

Anhand einer solchen Aussage über die Frühgeschichte kann man sich zwar einerseits die Wünsche und Träume dieses Mannes vorstellen, was uns in diesem Zusammenhang aber weniger interessiert. Denn „soweit wir das heute feststellen können“, sind alle Kunstwerke der Frühzeit von Menschen hergestellt worden, die wir nicht kennen. Das heißt, wir wissen nicht, wer die kleinen dicken Frauen, die Elfenbeinlöwen, die Mammuts aus Knochen und Stein, die Höhlenbären, die schlanken Frauentorsos hergestellt hat.

Torbrügge zitiert im Ausstellungskatalog zu Idole. Frühe Götterdarstellungen einen ungenannten Forscher, der sich vorstellt, wie die Frauen „aus Langeweile“ selbst diese Frauenfigürchen, also gewissermaßen Selbstportraits, schnitzten und formten, während die Männer auf der Jagd waren und zum Schnitzen und Töpfern gar keine Zeit hatten.

Kann es sein, daß unsere Vorstellungen von der Frühgeschichte von schwülstigen Forscherphantasien größtenteils aus dem 19. Jahrhundert stammen, die kritiklos übernommen wurden, bis sie aus den Publikationen und Katalogen verschwinden mußten, weil sie widerlegt waren? Wie kommen Wissenschaftler, wie z.B. Albrecht, auf die Idee, Frauen hätten die Gesellschft und das soziale Zusammenleben nicht geprägt? Die ägyptische Hieroglyphe für „Töpfern“ ist dieselbe wie die für „Frau“ (und die meisten Idole der Frühzeit sind aus Ton); und schon Diodor, der griechische Reisende und Philosoph, berichtete, in Lykien würden nur Frauen prächtige Häuser bauen und die Männer stünden verlegen lächelnd herum.

Bis in die heutige Zeit hinein finden sich Beweise für die umfassende gesellschaftliche Wirkung von Frauen in der Geschichte. Zwei Beispiele: Bei den Tuareg gilt als nicht von hohem Adel, wer seine Vorfahren nicht bis zur großen Gründerin aller Stämme, Tin Hinane, zurückführen kann, die den Klan übrigens der Sage nach mit ihrer Freundin gründete.

In einem Dorf der Ga in Ghana, in dem ich mich längere Zeit aufhielt, führten zwei englische Ethnologen eine Untersuchung durch. Ich traf sie in Accra wieder und fragte sie nach ihren Erkenntnissen. Sie erzählten mir vom Medizinmann, vom Chief, von den Männerriten. Ich fragte nach den Frauen. Die spielten, so die Wissenschaftler, bei den Ga keine besondere Rolle. Bei den Ga ist der Stamm allerdings matrilineal und matrilokal geordnet. In jedem Dorf gibt es eine Fetischpriesterin, die Frauen schließen sich zu mehreren Geheimbünden zusammen. Die beiden Männer konnten das nicht in Erfahrung bringen, weil sie zum Frauenteil des Dorfes keinen Zugang hatten (den sie für eine Vorratsabteilung hielten). So enstehen Mythen. Übrigens bauen die Frauen bis heute in den westafrikanischen Dörfern die Häuser in alter überlieferter Tradition, sie sind Töpferinnen, Weberinnen, Händlerinnen wie auch die Frauen Asiens oder Südamerikas.

So hartnäckig, wie sich die Mythen vom alles beherrschenden Steinzeit-Jäger mit der Keule halten, sind auch die Darstellungen der menschlichen Entwicklung: vom Affen zum Mann. Die Menschheitsgeschichte wird, allen Erkenntnissen zum Trotz, stets nur von Mann zu Mann aufgezeichnet. Von den Gebrüdern Cro-Magnon zu den Gebrüdern Grimm.

Eine angehende Doktorandin legte ihrem Doktor-Vater (was für ein Wort!) ihre Arbeit über Idole aus der Frühzeit vor, in der sie eine These zu den fettsteißigen Frauenfiguren entwickelt hatte. „Ach, das ist doch alles Käse“, meinte der Professor, „diese Darstellungen sind frühe Pornographie, von Männern gemacht, um sich daran zu erregen.“ Diese Ignoranz wird nur noch von einem Archäologen überboten, der die Frauengräber in Bischofshofen und das Fehlen von Männern und männlichen Kindern folgendermaßen erklärte: „Die Männer werden die Buben halt mit in den Krieg genommen haben. Heutzutage nehmen ja die Männer ihre Buben auch mit auf den Fußballplatz.“

Jahrelang galt es als „gesichert“, daß die Knochenfunde von alten Frauen und Kindern in einer Höhle im Turkanagebiet, Kenia, „rituelle Menschenopfer“ darstellten. Heute, mit den verfeinerten Radiocarbon- Untersuchungsmethoden, die den radioaktiven Zerfall einer Substanz feststellen können und damit eine sehr viel genauere Material- und Zeitzuordnung ergeben, weiß man, daß ein Leopard diese offenbar schwächeren Mitglieder der Sippe rauben und fressen konnte. Der Nachweis des Leoparden und der Kampfspuren konnte erst durch die neue Untersuchungstechnik erbracht werden. Bis dahin geisterte aber die abstoßende und faszinierende Vorstellung durch Wissenschaftlerhirne: In der Frühzeit wurden alte Frauen und Kinder geopfert.

Solche Einschätzungen sind immer problematisch, weil sie die Phantasien der Forscher zu unumstößlichen Tatsachen erklären. Gefährlich werden sie dann, wenn Theorien zur Überlegenheit einer bestimmten Rasse oder eines bestimmten Geschlechts damit untermauert werden sollen. Erstaunlich ist dabei die Tatsache, daß Frauen zwar aus der Frühgeschichtsschreibung herausdiskutiert und -interpretiert werden, daß aber keine Frühgeschichtsausstellung in der Lage ist, auf die zahlreichen Frauendarstellungen zu verzichten. Erst kürzlich bewies die umfangreiche Austellung 5 Millionen Jahre menschliches Abenteuer im Palais der Schönen Künste in Brüssel, daß unsere Erkenntnisse der Frühzeit bislang hauptsächlich durch Frauen geprägt sind. Bis etwa 3000 vor unserer Zeit sind Frauendarstellungen in der überwältigenden Mehrheit.

James Mellaart schreibt in seinem Ausgrabungsbericht von Catal Hüyük und Hacilar über diese etwa 5000 und 6000 Jahre alten matriarchalen Siedlungen, sie zeichneten sich durch eine — heute kaum noch nachvollziehbare — Friedlichkeit aus. Es gab dort keine Mauern, keine Verteidigungsanlagen, keine Waffenfunde. Dafür aber Tempelräume mit Göttinnen, Löwinnen und Leoparden, Wohnplattformen für die Gebieterin des Hauses, die besonders ausgeschmückt und weiträumig waren. Die Kinder wurden mit den Müttern bestattet und lebten bei ihnen. Göttinnenfiguren wurden oft mit Geierköpfen, Löwenköpfen oder in anderen Tiergestalten geformt.

Ein Beispiel für eine kreative Auseinandersetzung mit Funden bietet die Diskussion um einen Kultstein von Lepenski Vir (Siedlung aus dem Holozän an der Donau, an der Grenze zwischen Jugoslawien und Bulgarien gelegen): Der Katalog des Philipp-von-Zabern-Verlags meint, ein Oval in der Mitte des Steins „lasse an einen Fisch denken“, die Forscherinnen Marie König und Marija Gimbutas bezeichnen den Stein als „Vulva-Darstellung“, zumal ein zweiter, in der Nähe gefundener Stein eine Art „Sheela-na-Gig“ (also ein Gesicht, angedeutete Brüste und zwei Hände, die eine große Vulva auseinanderziehen) zeigt. Die Brüsseler Aussteller schließen sich kurzerhand den Forscherinnen an und bezeichnen den Stein nun als „Vulva-Stein“. Ganz anders E. Comsa im Idole-Katalog: „Die Masse weiblicher Figuren im Neolithikum zum Beispiel erklärt sich[...] simpel aus einer anfänglichen Funktion als Jagdgottheit, die sich mit der intensivierten Agrarwirtschaft in eine Fruchtbarkeitsgöttin verwandelt hat.“ Torbrügge distanziert sich in seinen Bemerkungen im selben Katalog von dieser Deutung. Er bedauert sgoar die Praxis solcher Art von Forschung: „Die Scheinbeweise werden[...] aus der vorweggenommenen Deutung abgeleitet.“

Jahrelang wurde behauptet, die Menschen der Frühzeit lebten praktisch im Freien, fertigten ihre Gebrauchs- und Kultgegenstände nur aus Stein, Knochen, Elfenbein und Muschelmaterial und liefen mit Keulen und Steinäxten herum. Die Tatsache, daß Textilien, Flechtwerk, Schilf, Holz, Fell und Leder zwar verwendet wurden, aber vermutlich heute längst zerfallen sind, spielte bis vor kurzem in der Forschung kaum eine Rolle.

Gerade die Frühgeschichtsforschung krankt an der mangelnden Kreativität und dem Realitätsverlust der Forscher. Wenn die Wissenschaft so weiterarbeitet, dann werden in tausend Jahren irgendwelche Ausgräber behaupten, Agip-Tankstellen seien Tier-Heiligtümer gewesen. Da sei die Göttin vor! Seltenheitswert haben bei Ethnologen und Frühgeschichtsforschern jedenfalls immer noch die Eigenschaften Sensibilität und Selbstkritik, wie sie die Herausgeber eines Katalogs über die Frühgeschichte amerikanischer Ureinwohner an den Tag legten. Sie druckten als Leitmotiv die Anekdote einer Begegnung eines Anthropologen mit einer Töpferin ab: Der Anthropologe Kenneth Chapman besuchte in den dreißiger Jahren die Töpferin María Martínez in San Ildefonso Pueblo. Chapman fragte sie, wann sie geboren sei, worauf sie antwortete: „I am here.“

Erwähnte Literatur: H. Müller- Beck, Die Anfänge der Kunst, Theiss-Verlag. — Idole. Frühe Götterbilder und Opfergaben,Verlag Philipp von Zabern. — James Mellaart, Catal Hüyük, Lübbe-Verlag. — I am here. 2000 Years of southwest indian Arts and Culture, Museum of New Mexico Press. — 5 Millionen Jahre menschliches Abenteuer, Palais des Beaux Arts, Brüssel. — Lepenski Vir (Ausstellungkatalog), Verlag Philipp von Zabern. — Goddess, Adele Getty, Thames and Hudson Verlag, London. — The Language of the Goddess, Marija Gimbutas, Harper San Francisco-Verlag. — Sehr lesenswert: Carola Meier- Seethaler, Ursprünge und Befreiungen. Eine dissidente Kulturtheorie, Arche-Verlag. — Marie König, Am Anfang der Kultur, Ullstein-Verlag. — Cillie Rentmeister, Frauenwelten — Männerwelten, Leske und Budrich-Verlag.

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