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Wehret der Pflicht

Vom Unionspolitiker bis zum Sofageneral fordern gerade viele die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht.Besser wäre, sie wäre 2011 nicht nur ausgesetzt, sondern abgeschafft worden, sagt unser Autor

Damals, vor der Aussetzung der ­Wehrpflicht: Abschlus­s­prüfung der Grund­ausbildung beim Panzerbataillon 413 in Torgelow im März 2011 Foto: Michael Jungblut/laif

Essay von Pascal Beucker

Da ist sie also wieder, die Diskussion über die Wehrpflicht. Dabei ist die Tinte unter dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD kaum trocken. „Wir schaffen einen neuen, attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert“, hatten die drei Regierungsparteien erst im April vereinbart. Trotzdem werden auch – und gerade – aus den Reihen der Koalitionäre die Stimmen lauter, denen das nicht reicht. Verstärkt wird der Chor von einem Großaufgebot an Sofagenerälen, denen auch nichts Besseres einfällt, als wieder junge Männer zum „Dienst mit der Waffe“ zwingen zu wollen.

Glaubt man den Meinungsforschungsinstituten, dann gibt es eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerung für die Rückkehr zur Wehrpflicht. Laut einer in dieser Woche veröffentlichten Forsa-Umfrage sprechen sich 59 Prozent dafür aus, 37 Prozent dagegen. Die größte Zustimmung kommt von den An­hän­ge­r:in­nen der Union (78 Prozent) und der AfD (71 Prozent), nur bei den Linke-Wähler:innen spricht sich eine Mehrheit dagegen aus (62 Prozent). Allerdings gibt es einen kleinen Haken: Es sind vor allem diejenigen für die Wehrpflicht, die davon nicht betroffen wären – also die Älteren.

In der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen sind nur 29 Prozent dafür, 61 Prozent dagegen. Rechnet man hier noch die Frauen heraus, blieben nicht mehr viele Wehrpflichtfans übrig, die selbst in die Kaserne einrücken müssten. Das korrespondiert mit einer weiteren Forsa-Umfrage vom März, nach der lediglich 17 Prozent der Bevölkerung „auf jeden Fall“ bereit sind, Deutschland im Falle eines militärischen Angriffs mit der Waffe zu verteidigen. Eine Mehrheit von 60 Prozent will das jedoch „auf keinen Fall“ oder „wahrscheinlich nicht“. Ist es wirklich akzeptabel, andere zu etwas zwingen zu wollen, wozu man selbst nicht bereit ist?

Die heutige Größe der Bundeswehr verdankt sich der Wiedervereinigung und der Auflösung des Warschauer Pakts. Damals „von Freunden umzingelt“, wie es der damalige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (CDU) 1992 formulierte, wurde keine Notwendigkeit einer große Armee zur Landes- und Bündnisverteidigung mehr gesehen. Noch 1989 zählte die Bundeswehr rund 486.800 Soldaten, hinzu kamen rund 155.300 Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR – wobei die damaligen Truppenstärken nicht der rea­len Bedrohungslage geschuldet, sondern vor allem ideologisches Produkt der Zeit des Kalten Kriegs waren. Mit dem im März 1991 in Kraft getretenen Zwei-plus-Vier-Vertrag verpflichtete sich die Bundesregierung zu einer Obergrenze der Streitkräfte des vereinten Deutschlands von 370.000 Mann.

Bis zur Aussetzung der Wehrpflicht 2011 sank die Personalstärke schließlich auf 206.100 Soldat:innen. Zuvor war bereits die Dauer des Wehrdiensts von 15 Monaten im Jahr 1990 immer weiter reduziert worden, zuletzt betrug sie nur noch sechs Monate. Im Sinne der Wehrgerechtigkeit war die von CDU, CSU, FDP und Grünen beschlossene Aussetzung nur konsequent, da nur noch ein Bruchteil eines Jahrgangs überhaupt „eingezogen“ wurde. Allerdings war sie umstritten: Die SPD stimmte dagegen, weil sie die Wehrpflicht beibehalten wollte, die Linke lehnte sie ab, weil sie für deren Abschaffung war.

Dass die Verhältnisse angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine heute anders sind, lässt sich nicht bestreiten. Trotzdem bleibt die Aussetzung der Wehrpflicht eine zivilisatorische Errungenschaft. Noch besser wäre es gewesen, sie tatsächlich ganz abzuschaffen. Denn für den Spannungs- oder Verteidigungsfall gilt die Aussetzung nicht. Geradezu absurd ist es, dass für diesen Fall auch das im vergangenen November in Kraft getretene Selbstbestimmungsgesetz der Ampel eine Ausnahmebestimmung enthält: So sieht das Gesetz zwar eigentlich vor, dass Menschen frei ihren Geschlechtseintrag ändern lassen können – aber nur bis zwei Monate vor der Feststellung des Spannungs- oder Verteidigungsfalls. Danach hat eine trans Frau rechtlich ein Mann zu bleiben – um zum „Dienst mit der Waffe“ gezwungen werden zu können. So ernst haben es SPD, FDP und Grüne wohl mit der Selbstbestimmung dann doch nicht gemeint. Generell sollte jedoch gelten, dass niemand und unter keinen Umständen gezwungen werden darf, auf andere Menschen zu schießen. Vom 21. bis zum 22. Juni veranstaltet die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen in Kassel einen „Kriegsdienstverweigerungskongress“. Das passt gut in die Zeit, auch wenn allzu viele die pazifistischen Organisationen wie die DFG-VK fälschlich für aus der Zeit gefallen halten.

Aktuell tragen rund 182.500 Menschen die olivgrüne Uniform, davon rund 112.800 Zeit­sol­dat:in­nen, 57.700 Be­rufs­sol­da­t:in­nen sowie rund 12.000 freiwillige Wehrdienstleistende. Der Frauenanteil liegt bei knapp 14 Prozent. Wie die Ampel plante auch Schwarz-Rot noch bis vor Kurzem, die Truppenstärke schrittweise bis zum Jahr 2031 auf 203.000 Sol­da­t:in­nen anwachsen zu lassen. Hinzu kommen sollten bis dahin insgesamt 260.000 Reservist:innen, die im Verteidigungsfall mobilisiert werden könnten. Derzeit nehmen etwa 34.000 Re­ser­vist:in­nen an regelmäßigen Übungen teil. Allerdings gelten diese Zielzahlen inzwischen als überholt. Am Rande des Treffens der Nato-Verteidigungsminister Anfang Juni in Brüssel bekundete Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), nunmehr würden perspektivisch 50.000 bis 60.000 Sol­dat:in­nen in den stehenden Streitkräften benötigt, wobei das „nur eine Daumengröße“ sei.

Patrick Sensburg, der Präsident des Reservistenverbands, denkt bereits in anderen Dimensionen: Um Deutschland in der Fläche mit modernem Kriegsmaterial zu verteidigen, bräuchte man zwischen 300.000 und 350.000 Soldat:innen, sagte der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete dem Nachrichtenportal t-online. Die Zahl der Re­ser­vis­t:in­nen müsse noch um das Dreifache höher sein, also bei rund einer Million liegen. „Wir brauchen ein Massenheer, um in einem möglichen Krieg zu bestehen“, so Sensburg. Dazu passt die Ankündigung von Bundeskanzler Friedrich Merz aus dem vorigen Monat in seiner ersten Regierungserklärung, die Bundeswehr solle „konventionell zur stärksten Armee Europas“ werden. Ein solches Ziel klingt schon verdammt geschichtsvergessen für ein Land, das in militaristischem Wahn zwei Weltkriege angezettelt hat und dessen Soldaten den größten Zivilisationsbruch der Menschheitsgeschichte möglich gemacht haben.

Selbstverständlich plädiert Sensburg wie viele in der Union für eine Reaktivierung der Wehrpflicht. Aber selbst bei den personellen Größenordnungen, die ihm vorschweben, wäre das keineswegs eine erforderliche Konsequenz. Im Auftrag des Bundesfinanzministeriums hat das Münchner ifo ­Institut im Juni 2024 eine interessante Studie veröffentlicht. Darin geht es um die volkswirtschaftlichen Kosten einer Wiedereinführung der Wehrpflicht. Falls 25 Prozent einer Alterskohorte eingezogen würden, was einem ähnlichen Umfang wie bei der alten Wehrpflicht entspräche und 195.000 Personen betreffen würde, verursachte das Staats­ausgaben von etwa 3,2 Milliarden Euro und volkswirtschaftliche Kosten von 17,1 Milliarden Euro pro Jahr. Damit wäre die Rückkehr zum Zwangsdienst teurer, als die Attraktivität der Bundeswehr zum Beispiel über höhere Gehälter so zu steigern, dass sich ausreichend Personal freiwillig meldete, haben die Wissenschaftler errechnet. Denn wenn freiwillige Wehrdienstleistende nicht nur 42 Prozent, sondern 100 Prozent des Gehalts, das auf dem zivilen Arbeitsmarkt gezahlt wird, angeboten bekämen, wären zwar die jährlichen Staatsausgaben um 7,7 Milliarden Euro höher, die volkswirtschaftlichen Kosten aber mit 9,4 Milliarden Euro deutlich niedriger.

Eine solche „Marktlösung“ würde es „erlauben, die militärischen Fähigkeiten im gleichen Maße wie bei einer Wehrpflicht günstiger zu steigern“, konstatiert das ifo ­Institut. Auch mit Blick auf eine gerechte Lastenverteilung biete eine solche Lösung Vorteile gegenüber einer Wehrpflicht, bei der die ökonomische Ungerechtigkeit für die Wehrpflichtigen gegenüber nicht Wehrpflichtigen erheblich sei. Man muss also nicht einmal Pazifist oder Antimilitarist sein, um sich gegen die Wehrpflicht auszusprechen.

Niemand darf gezwungen werden, auf andere Menschen zu schießen

Die gegenwärtige Debatte ist geprägt von einem bedenklichen Alarmismus. Auch wenn Putin ein übler autokratischer Herrscher mit imperialistischen Ambitionen ist, der für alle Länder, die aus der Sowjetunion hervorgegangen sind, eine ganz reale Bedrohung darstellt, ist es schon erstaunlich, wie die militärischen Fähigkeiten Russlands überhöht werden und das bestehende Abschreckungspotenzial der europäischen Nato-Staaten kleingeredet wird. Vielleicht sei dieser Sommer „der letzte Sommer, den wir noch im Frieden erleben“, fabuliert beispielsweise der Militärhistoriker Sönke Neitzel. Die SPD bezeichnete er als „Sicherheitsrisiko für Deutschland“, weil sie derzeit noch nicht für die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht ist. Aber wenigstens war der 56-jährige Professor einst mal selbst bei der Bundeswehr und hat im taz-Interview versprochen, er „wäre auch heute wieder bereit, einen Dienst an der Waffe zu leisten“. Das unterscheidet ihn von etlichen Maulhelden.

Jedenfalls ist es gratismutig, wenn beispielsweise ein über 50-jähriger Spiegel-Redakteur mit viel Pathos öffentlich mitteilt, er habe seine Kriegsdienstverweigerung von anno dunnemals zurückgezogen. Denn es bleibt für ihn folgenlos. Das gilt ebenso, wenn der 55-jährige Robert Habeck verkündet, er würde sich heutzutage nicht mehr für den Zivildienst, sondern die Bundeswehr entscheiden.

Absolut wohlfeil ist es, wenn sein grüner Parteifreund Joschka Fischer im Spiegel-Interview zu Protokoll gibt, die Aussetzung der Wehrpflicht sei ein Fehler gewesen und er sei dafür, sie jetzt wieder einzuführen. Der heute 77-Jährige war selbst nie bei der ­Bundeswehr – wobei unklar ist, ob er verweigert hat oder wegen einer Sehschwäche ausgemustert wurde. Statt zum Bund zu gehen, machte seine militante „Putzgruppe“ seinerzeit übrigens lieber paramilitärische Übungen im Taunus. Wenn junge Leute auf beides heute keinen Bock mehr haben, geht das schon in Ordnung.

Der Autor diskutiert im aktuellen Bundestalk (taz.de/bundestalk), dem politischen Podcast der taz, über Aufrüstung und die Wehrpflichtdebatte.

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