■ Der sowjetische Geheimdienst NKWD und die deutschen Kommunisten
: Wehner und der Apparat

„Der große Terror“, wie der US-amerikanische Historiker Robert Conquest die Zeit der stalinistischen „Säuberungen“ in der Sowjetunion von 1934 bis 1939 genannt hat, vernichtete die „alte“ bolschewistische Partei, fast die gesamte revolutionäre Intelligenzija, schließlich einen Großteil der Kader, die die ersten Schritte des sozialistischen Aufbaus ermöglicht hatten. Zu den Opfern dieser blutigen Ernte (die Zahl der Ermordeten und in den Lagern Verstorbenen liegt bei mindestens zehn Millionen) gehören auch mehrere tausend Kommunisten bzw. revolutionär gesinnter deutscher Arbeiter, die im Vertrauen auf die Sowjetmacht nach 1933 in die Sowjetunion emigriert waren.

Als Herbert Wehner, Mitglied des ZK der KPD und Kandidat ihres Politbüros 1935, zum ersten Mal nach Moskau kam, rollte bereits die Verhaftungswelle an. Angst, Mißtrauen, ein Klima gegenseitiger Abschottung und eilfertiger Denunziationen bzw. Selbstbezichtigungen vergiftete die menschlichen Beziehungen unter den kommunistischen Kadern. Der erste große Schauprozeß von 1936 gegen Sinowjew und Kamenjew war in Vorbereitung. Niemand, mochte seine Stellung in der Kommunistischen Internationale noch so gefestigt und sein Ruf noch so untadelig sein, war sicher.

Herbert Wehner war im Jahre 1927, noch nicht 21jährig, der KPD beigetreten und hatte als „junger aufstrebender Proletarier“ in Sachsen rasch Parteikarriere gemacht, ehe er 1932 in die Berliner Zentrale gerufen wurde – als „technischer Sekretär“. Zu seinen Aufgaben gehörten auch die Kontakte zu den illegalen Organisationen der Partei – des Kippenberger- Apparats, der für „Abwehr“, „Zersetzung“ und „Nachrichten“ zuständig war, und des Ifland-Apparats, dem die Beschaffung konspirativer Wohnungen, die „Verdeckung“ von Genossen etc. oblag. Als die Katastrophe von 1933 hereinbrach, war die Inkompetenz dieser Apparate für Wehner das traumatische Erlebnis.

Fast ebenso sehr verbitterte ihn das Versagen der engsten Mitarbeiter Ernst Thälmanns, darunter jenes Genossen Birkenhauer, den er von Anfang an verdächtigte, „Teddy“ der Gestapo ausgeliefert zu haben. In der Auseinandersetzung über die Bewertung der selbstmörderischen Sozialfaschismus-Linie und beim Kampf für die Volksfrontlinie, die 1935 auf dem VII. Weltkongreß der Komintern den Sieg errang, stand Wehner „auf der richtigen Seite“. Zu bittere Erfahrungen hatte er als illegaler Parteiarbeiter im Nazi- Deutschland mit den Durchhalteparolen und der plakativen Zuversicht in die nahe sozialistische Revolution gemacht. Daß er gegen die Sektierer Schulte und Schubert auftrat und sie auf der Parteikonferenz der KPD 1935 in Moskau verurteilte, war auch Resultat seiner praktischen Parteiarbeit.

Wehner als Apparatschik war natürlich die Verzahnung der Organisations-, Kader- und Parteikontrollabteilungen der KPD mit den entsprechenden Institutionen des Exekutivkomitees der Komintern und den sowjetischen Sicherheitsbehörden bekannt. Schon vor 1933 stapelten sich in Moskau Duplikate von Kaderakten und von Informationen, die der Nachrichtendienst des Kippenberger-Apparats über jede denkbare Linienabweichung bzw. „Verfehlung“ von Parteimitgliedern gesammelt hatte. Die nach der Sowjetunion emigrierten Genossen hatten zudem, bevor sie „übernommen“ wurden, ein Durchleuchtungsverfahren zu überstehen, mit Lebenslauf, Befragung, gegebenenfalls gründlicher Selbstkritik. Dieses Verfahren bürokratischer „Kaderauslese“ und Überwachung wurde während der Zeit des großen Terrors zu einem lebensbedrohenden Instrument in der Hand des sowjetischen NKWD.

Über die deutschen Parteiarbeiter wachte eine Kaderabteilung des Exekutivkomitees der Komintern (EKKI), an der auch deutsche Kader beteiligt waren. Urteile bei Untersuchungen über Genossen fällte die Kontrollkommission des EKKI, in der das Mitglied der Parteileitung, Florin, saß. Letzteres Gremium leitete auch Akten an das NKWD weiter. Ob der sowjetische Sicherheitsdienst daraufhin zur Tat schritt, welchen Gebrauch er von den Ermittlungen des EKKI machte, entzog sich den Einflußmöglichkeiten der Komintern und der deutschen Genossen. Entscheidend war, ob das „Material“ und die Person des Verhafteten in eine der gerade konstruierten Verschwörungen paßte. Tatsache ist, daß die Kaderentscheidungen der Kontrollkommission häufig zu Verhaftungen führten und daß die beigefügten Unterlagen in den NKWD-Dossiers auftauchten. Das ist auch bei dem Brief Wehners an Wilhelm Pieck der Fall, in dem er schwere Anschuldigungen gegen eine Reihe von Genossen erhebt und den wir hier dokumentieren.

Um diesen Text richtig verstehen zu können, muß man wissen, daß gegen Wehner selbst eine Untersuchung der Kontrollkommission lief. Erich Birkenhauer hatte Wehner kaum verhüllt der Spitzeltätigkeit für die Gestapo bezichtigt. Wehner schlug zurück. Aber er begnügte sich nicht mit Anklagen gegen den inzwischen selbst verhafteten Erzfeind. Er forderte weitere Untersuchungen und Maßnahmen gegen das Mitglied der Parteileitung, Leo Flieg, der – wegen seiner Verbindung zu dem abtrünnigen Münzenberg in Paris aufs höchste gefährdet – gerade nach Moskau zitiert worden war, und gegen das ehemalige Mitglied des Pol-Büros, Schulte, der zu diesem Zeitpunkt noch in Freiheit war. Flieg und Schulte wurden zu Opfern der NKWD-Inquisition, Münzenberg, den Wehner zur gleichen Zeit attackierte, wurde 1940 aller Wahrscheinlichkeit nach von einem Mordkommando des NKWD in Frankreich „liquidiert“. Auch wenn zwischen den Angriffen Wehners und den Aktionen des NKWD kein direkter Zusammenhang hergestellt werden kann – fest steht zumindest, daß er in den erwähnten Fällen nicht in schierer Selbstverteidigung gehandelt hat. Vielmehr spricht aus seinem Brief jene Attitüde unbarmherziger Härte, Selbstgerechtigkeit und Reinigungswut, die er nach 1945 allen Mitstreitern anlastete – nur nicht sich selbst. Christian Semler