: Waten im Schlamm
Nicolas Stemann sucht in „German Roots“ am Thalia in der Gaußstraße nach Auswegen aus der Indifferenz
Das Stück spielt im Jahr 2035, doch es erzählt von der Gegenwart. Bernd Stegemann und Nicolas Stemann wollen verstehen, warum heute ein akuter Notstand an Idealen und die Diktatur der Gleichgültigkeit herrscht, und graben dafür mit German Roots tief in die deutsche Geschichte. Dabei fördern sie vor allem zwei dicke Brocken zutage: den Nationalsozialismus und die 68er-Bewegung.
Geschichtsstunde im Theater: Bei dieser Koproduktion des Thalia Theaters mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen ist daraus eine ambivalente Angelegenheit geworden – zwischen platt und lehrreich, pathetisch und vergnüglich. Eins ist diese Doppelstunde, die jetzt im Thalia in der Gaußstraße Premiere hatte, aber auf keinen Fall: langweilig. Vier Generationen prallen aufeinander. Der Jüngste ist noch ein Kind. Er taucht nur auf dem Bildschirm eines altmodischen Fernsehers auf und fragt immer wieder: „Warum hast du nichts getan?“ Die Frage ist an Daniel (Philipp Hochmair) gerichtet, Stellvertreter der Generation, die heute zwischen 30 und 40 ist und der Regisseur Stemann selbst angehört. Eine Generation, die nicht handelt, sondern zuschaut und zweifelt. Immer noch besser als die Generation der Täter, oder?
Mit viel Witz und Selbstironie zeigt Stemann, wie sich Daniel von seinen Eltern, Alt-68ern und ehemaligen RAF-Anhängern, und von seinen Großeltern, glühenden Nazi-Anhängern, distanziert. Er fühlt sich frei von Schuld. Doch nach und nach wird aus dem Hochmut das Eingeständnis, an nichts glauben zu können: weder an politische Ideale noch an die Liebe.
Stemann tappt bei seiner Geschichtsstunde inmitten brauner Erde auch beherzt in Pathos und Plattitüden. Peinlich die verbale Gleichsetzung von Idealen der Nazis mit denen der 68er. Pathetisch der donnernde Gong dazu. Man freut sich trotzdem über den Mut dieser Inszenierung, nicht nur Fragen aufzuwerfen, sondern auch Stellung zu beziehen – selbst wenn nicht alles stimmig in Bilder umgesetzt wurde. So bleiben Daniels Großeltern und Eltern bloße Stellvertreter einer Generation. Der von seinem autoritären Nazivater unterdrückte Bernward (Sebastian Blomberg) ist ein Konstrukt nach Bernward Vespers autobiografischem Roman Die Reise, dessen Frau Gudrun (Myriam Schröder) vor allem äußerlich an Gudrun Ensslin angelehnt. Erst wenn Opa von seinen blutigen Kriegserlebnissen berichtet und die Mutterkreuzträgerin von ihrer Vergewaltigung durch die Russen erzählt, werden Menschen aus Fleisch und Blut daraus. Und wenn eine Japanerin im Dirndl deutsche Klänge tief unter der Erde per Mikro und Zeitrückspulgerät ausgräbt – mit Wagnermelodien, Kohlreden, Hitlergebrüll und Torjubel –, dann geht es endgültig an die deutschen Wurzeln. Karin Liebe
weitere Vorstellungen: 3.–10. 9., jeweils 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße