Was wirklich zählt: Kapitalismus ist egal, oder?

Waren das Post-1968-Milieu und die Grünen zu sehr fixiert auf Minderheiten und Liberalisierung von Lebensentwürfen?

USA: Schwarzer Protest gegen massenhafte Zwangsvollstreckungen durch staatlich gestützte Banken. Bild: reuters

Eine Gesellschaft sucht sich ihre Tabus selbst heraus, sagt George Packer, Autor des Bestsellers „Die Abwicklung“, einer großen Bestandsaufnahme der US-amerikanischen Gesellschaft. Diskriminierung von Minderheiten ist heute tabu, rassistische Sprache ist tabu, als Chef die Sekretärin bumsen, sagt er, ist „ziemlich tabu, obwohl die Chefs es tun“.

Leute rausschmeißen und ihnen keine Alternative mehr geben, werde dagegen hingenommen.„Wir haben unsere Tabus geändert“, sagt Packer. „Es ist nicht mehr okay, Rassist zu sein, aber es ist okay, das Leben von Menschen zu vernichten.“

Was er als Indiz nimmt, dass speziell der von 1968 geprägte Teil der Gesellschaft zwar seine (und auch gesellschaftliche) Haltungen verbessert hat, damit aber so ausgelastet war, dass er gar nicht mitgekriegt hat, was sich zum Schlechteren verändert hat.

Jahrgang 1963, ist Chefreporter der taz und Buchautor. Peter Unfried ist seit 1994 bei der taz, von 1999 bis 2009 war er stellvertretender Chefredakteur, seither ist er Chefreporter. Für Unfried ist die taz "mehr als eine Zeitung". Deren Einzigartigkeit zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Selbstorganisation als Genossenschaft.

Der emanzipatorische Fortschritt bringt den Minderheiten nichts

Die große Frage, die das tazlab „Was wirklich zählt“ aufwerfen muss, lautet demnach: Waren diejenigen, die sich für progressiv halten, in den letzten fünfzig Jahren zu fixiert auf Gedöns, was in diesem Fall die Kämpfe für diskriminierte Minderheiten und die Liberalisierung von Lebensentwürfen meint?

Es geht nicht darum, diese Errungenschaften abzuwerten.Vom Binnen-I jetzt mal abgesehen. Auch Packer ist froh, wenn ein Homosexueller nicht mehr diskriminiert wird.

Aber der emanzipatorische Fortschritt bringt ihm in entscheidenden Bereichen nichts, sagt Packer, und setzt das in Relation zu den negativen Entwicklungen, der seiner Recherche nach schlechteren Schulausbildung und den geringer werdenden Chancen eines sozialen Aufstiegs in den USA, schwindender Sichtheit, geringeren Löhnen, abstürzender Mittelschicht, dünner werdender sozialer Netze und Rückgang des Respekts gegenüber dem Arbeiter und seiner Arbeits- und Lebensleistung.

Die Globalisierung verpennt

Robin Alexander hat in einem Essay in der Welt („Wem nutzt der Code der Gleichstellung?“) unlängst darauf hingewiesen, dass die linke Ikone Naomi Klein schon in ihrem Antiglobalisierungsbestseller „No Logo“ schrieb, man habe die Globalisierung verpasst, während man dafür kämpfte, dass Juden zum Arbeitskreis Rassengleichstellung im Frauenzentrum der Universität zugelassen werden sollten.

Auch Packer, Redaktionsmitglied des New Yorker, ist kein Neocon, sondern ein klassischer US-amerikanischer Ostküsten-Linker. Es geht nicht darum, die Erfolge der Identitätspolitik abzuwerten. „Ich bin stolz auf unsere kleinen Siege“, schreibt Klein.

Es geht auch darum, ob Packers Kleins Einschätzung, dass „wir bestimmte Schlachten nie geschlagen haben“ ernst genommen oder als Zumutung empfunden wird und mit genau den Argumenten der Political Correctness abgelehnt wird, die damit hinterfragt werden.

Womit wir bei den Grünen wären, der Partei, die aus der deutschen Emanzipationsbewegung von 1968 hervorgegangen ist und deren Kern laut allgemeiner Beteuerung die ökologische Transformation der Gesellschaft und Wirtschaft zur Meisterung der kommenden Krisen ist, die sich aus dem Klimawandel ergeben.

Vernehmliches Murren in der Grünen-Parteizentrale

Als aber Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann aussprach, dass die Grünen in diesem Sinne einer globalen Gerechtigkeitspolitik eine „Wirtschaftspartei“ sein müssten, gab es in Berlin murmelnden Widerspruch. Im Prinzip zwar richtig. Aber es klinge nicht gut und könne eigene Anhänger verstören.

In der „Krise der politischen Identität der Alternativen“, wie Jan Feddersen an dieser Stelle schrieb, konzentriert man sich auf Haltungsnoten. Genau das nicht zu tun, ist aber die moralische Verpflichtung der Stunde.

Eine „alternative Öffentlichkeit“, die sich selbst moralisch abgrenzt, in dem sie die Mehrheit ausgrenzt – vgl. die klassische Rede auf einem Grünen-Parteitag - ist unmoralisch.

Die großen Errungenschaften seit der Aufklärung sind Freiheit und Individualisierung. Alles andere als Gedöns. Aber nun ist das Ganze nicht mehr der Ort, von dem es sich zu differenzieren gilt. Das Ganze ist auch der Ort, auf den alles zulaufen muss.

Das ist jetzt etwas ungewohnt und unbequem und könnte den Markenkern verwässern, aber haben wir sonst keine Sorgen?

PETER UNFRIED

Wir haben George Packer und Naomi Klein zum taz.lab eingeladen und hoffen sehr, dass sie die Einladung annehmen werden.