Was wird aus dem Bombodrom?: Besuch in der verbotenen Landschaft
Jahrelang kämpfte die "Freie Heide" gegen den Schießplatz "Bombodrom". Nun löst sich die Bürgerinitiative auf - aber frei ist die Heide noch lange nicht.
Grün. Grün, so weit das Auge reicht. Weite Flächen, nur mit Heidekraut bewachsen, Bäume, die dicht an dicht stehen und auf deren Wipfel die Sonne scheint. Nur ein paar Sandwege kreuzen das Gelände. Man möchte sofort losziehen, die Landschaft durchstreifen oder sich auf den weiten Heideflächen zum Picknicken niederlassen. Wenn nicht die unzähligen Blindgänger wären, die hier, in der Kyritz-Ruppiner Heide im Norden Brandenburgs, auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Wittstock lagern. Die Trampelpfade zu verlassen wäre ein lebensgefährliches Unterfangen.
Bombodrom – unter diesem Namen kennen die meisten das 12.000 Hektar große Gelände, und er könnte passender nicht sein. Ab den 1950er Jahren übte die sowjetische Armee hier mehr als 40 Jahre lang das Kriegführen. Mit Düsenjägern flog sie im Tiefflug über die Heide und bombardierte, was es zu bombardieren gab. Und da gab es eine Menge: So wurde eigens ein Flughafen nachgebaut – nur, um herauszufinden, wie man ihn am effektivsten wieder in Schutt und Asche legen kann.
Im Jahr 1992 war der Spuk vorbei, die Sowjets zogen ab. Aber sie hinterließen ein schwieriges Erbe: Mindestens anderthalb Millionen Einheiten nicht detonierter Munition, so schätzte die Bundeswehr in den frühen 2000er Jahren, lagern noch immer im Boden. Es könnten noch deutlich mehr sein, sagen andere, wie die Bürgerinitiative Freie Heide.
Trotz der immensen Belastung durch Munition wollte die Bundeswehr das Gelände nach dem Abzug der Russen übernehmen: um ebenfalls dort üben zu können. Allerdings hatte sie ihre Rechnung ohne die Anwohnergemeinden gemacht: Die schlossen sich bereits 1992, kaum dass die Armee ihre Absichten verkündet hatte, zur Bürgerinitiative „Freie Heide“ zusammen. Sie organisierten regelmäßige Protestmärsche, klagten immer wieder gegen die Armee, blieben hartnäckig – und nach 17 Jahren und 27 Klagen, die allesamt von der Bürgerinitiative gewonnen wurden, verkündete der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung im Juli 2009 das, worauf Tausende fast zwanzig Jahre gewartet hatten: Die Bundeswehr verzichtete auf den „Luft-Boden-Schießplatz Wittstock“.
Geschossen wird in der Heide also nicht mehr – für die Allgemeinheit zugänglich ist sie aber auch nicht. Einer, der Besucher durch die verbotene Landschaft führen darf, ist Rainer Entrup. Der 51-jährige Bundesförster verwaltet das Areal im Auftrag der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA) und kümmert sich um die Holzbestände. In seiner grünen Uniform, die beinahe aussieht wie der alte Polizeidress, steuert Entrup seinen Geländewagen auf holprigen Sandstraßen durch das Gelände und erklärt den ehemaligen Übungsplatz. „Auf diesem Hügel“, sagt er und zeigt nach rechts, „saß der halbe Warschauer Pakt. Die haben sich von hier aus die Einsatzübungen angesehen.“ Es seien eigens Tribünen gebaut worden, damit die Herren beim Ansehen des Kriegsschauspiels bequem sitzen konnten.
Seine Schilderungen lassen alte Zeiten lebendig werden, und man hat das Gefühl, dass Entrup ganz gern davon erzählt – vielleicht, weil er dann nicht über das Hier und Jetzt sprechen muss. Das stellt sich nämlich um einiges komplizierter dar.
Mehrere Lagen Schrott
Kompliziert ist es nicht nur wegen der Blindgänger, sondern auch wegen der rund 50 Millionen Bomben, die ihren Dienst zuverlässig getan haben – und deren Einzelteile nun, zu den bizarrsten Formen verbogen, überall verstreut sind. „Teilweise liegt der Metallschrott hier in mehreren Lagen im Boden“, sagt Entrup. „Wenn man die Erde nach Blindgängern absuchen würde, würde der Metalldetektor einen Dauerton geben.“
Die Masse an verstreutem Kriegsmaterial macht es nahezu unmöglich, die nicht explodierten Exemplare schnell zu finden. Deshalb, so Entrup, sei es auch schwierig, das Gelände räumen zu lassen – und vor allem sei es sehr, sehr teuer. Eine halbe Milliarde Euro plus x, lautet die Schätzung, die noch von der Bundeswehr stammt. Dass es deutlich mehr werden dürfte, ist für Entrup aber „so sicher wie das Amen in der Kirche“. Er bezweifelt, dass der Staat so viel Geld in die Hand nehmen werde: „Das wird woanders in Brandenburg doch viel dringender gebraucht.“ Und deshalb glaubt Entrup nicht, dass die Sperrung des Geländes jemals aufgehoben und die Heide jemals wirklich frei sein wird.
Benedikt Schirge ärgert diese Aussicht sehr. Jahrelang hat der heute 50-Jährige für die Freie Heide gekämpft, war Sprecher der Bürgerinitiative, erst ehrenamtlich, dann sechs Jahre lang hauptberuflich. Und nun soll das Areal, nach dem Sieg der Initiative, für immer unzugänglich bleiben?
„Der Staat muss sich darum kümmern“, fordert Schirge, der nun als Pastor in der Region arbeitet. „Durch Abwarten löst sich das Problem nicht.“ Für alles sei Geld da. Aber um etwas in Ordnung zu bringen, das von staatlicher Stelle eingefädelt wurde – wenn auch nicht allein von der Bundesrepublik – fehle es. „Wir haben einen Verteidigungshaushalt, in dem Millionen für den Afghanistan-Einsatz vorgesehen sind. Warum kürzt man nicht dort und gibt das Geld lieber hier aus?“, fragt Schirge. Die Enttäuschung, die in diesen Sätzen mitschwingt, ist nicht zu überhören.
Es ist nicht die erste Enttäuschung, die er und alle anderen Mitglieder der Bürgerinitiative erleben. Immer wieder hätten Politiker Versprechen so schnell gegeben wie gebrochen. Rudolf Scharping habe noch 1994 gesagt: Wenn die SPD regiere, werde das Bombodrom kein Übungsplatz mehr sein – als Verteidigungsminister der rot-grünen Koalition kämpfte der Sozialdemokrat ab 1998 vor Gericht für die Bundeswehr. Oder Peter Struck, ebenfalls SPD, der nach der Wende verkündet hatte, die Bundeswehr verspiele ihren „letzten Rest Glaubwürdigkeit in den neuen Bundesländern“, wenn sie das Bombodrom selbst nutze. Als Scharpings Nachfolger im Bendlerblock gab er 2003 die Betriebserlaubnis.
Trotzdem habe man nicht resigniert, sagt Schirge: „Viele haben sich gesagt: Jetzt erst recht!“ Es sei kein Politik-, sondern ein Politikerverdruss entstanden – vielleicht auch, weil es immer Gegenbeispiele gab: Regine Hildebrandt, Brandenburger SPD-Urgestein und langjährige Ministerin, habe bis zu ihrem Tod im Jahr 2001 ganz klar zur Freien Heide gestanden.
Auch Ralf Reinhardt ist Politiker – 36 Jahre alt, parteilos und seit 2010 Landrat des Kreises Ostprignitz-Ruppin. Hier liegt der überwiegende Teil des Bombodroms. Sein SPD-Vorgänger, 16 Jahre lang an der Macht, kämpfte Seite an Seite mit der Bürgerinitiative gegen die Bundeswehr, bis er in den Ruhestand ging. Reinhardt hat nun mit dem stillgelegten Platz zu tun. „Als es hieß, die Heide sei frei, war die Freude groß“, erzählt er. „Aber nach meinem Amtsantritt wurden die Schwierigkeiten immer deutlicher.“
Verantwortlich macht der Landrat dafür vor allem die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima), der das Areal jetzt gehört. „Die hält sich bei jeder Maßnahme zurück, die Geld kostet.“ Am liebsten, sagt Reinhardt, würde er die Heide für jedermann zugänglich machen. Trotzdem: Er will „gar nicht erst anfangen, darüber zu diskutieren“, ob nicht auch der Landkreis Geld für die Räumung geben könne. „Das ist Aufgabe des Eigentümers, also der Bima.“
Für einen Teil der Kyritz-Ruppiner Heide scheint es nun aber eine Lösung zu geben: Die gemeinnützige Heinz-Sielmann-Stiftung hat sich eingeschaltet. Sie verwaltet bereits andere ehemalige Truppenübungsplätze, etwa in der Döberitzer Heide westlich von Berlin. Auf einem wenig mit Munition belasteten, 4.000 Hektar großen Areal – das entspricht einem Drittel der gesamten Heide –, will sie ab August Kutschfahrten anbieten. 13 Kilometer soll die Strecke lang sein, frei zugänglich ist das Areal dadurch aber noch nicht. Die Kosten für den Unterhalt dieses Teilgebiets wird die Stiftung übernehmen, ebenso wie die Risiken, die sich aus der Munitionsbelastung ergeben.
Die Zukunft des restlichen Areals ist ungewiss. Anrainergemeinden wie Wittstock und Rheinsberg diskutieren „über Windkraft und Fotovoltaik“, weiß Rainer Entrup, der Bundesförster – aber nichts davon sei konkret.
Derweil wickelt die Bürgerinitiative „Freie Heide“ ihre Vereinsgeschäfte ab. Ab Frühjahr 2013 wird sie Geschichte sein. „Unser Ziel war die zivile Nutzung der Heide“, erklärt Pastor Schirge. Zwar sei die „freie Heide“ das Schlagwort gewesen und letztlich „nach wie vor unser Wunsch“. Aber „20 Jahre verbrauchen Kraft“. All seine Mitstreiter habe der Kampf Lebenszeit gekostet, viele seien inzwischen in Rente. „Wer sich für eine wirklich freie Heide engagieren will, soll das tun“, sagt Schirge. „Das ist Arbeit für die nächsten 20 Jahre.“
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