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Was von Sarajevo geblieben ist

Eindrücke aus einer belagerten Stadt, deren Einwohner sich mit allen Kräften gegen den Untergang wehren/ Diese Reportage schrieb Ivo Standeker zwischen Trümmern, drei Tage bevor er in Sarajevo erschossen wurde  ■ Aus Sarajevo Ivo Standeker

Im östlichen Teil Sarajevos gibt es einen uralten türkischen Friedhof. Unter ihm befindet sich eine natürliche Höhle, die schon während der Habsburgerzeit als Bunker diente. Aus der Nachbarschaft verbrachten Tausende Tage und Nächte im Schutze der alten Höhle, während ihre Häuser und die Stadt um sie herum in Schutt und Asche versanken. Schon am 5. April, am ersten Tag des Ramadan, wurde dieser Stadtteil durch die Granaten schwer getroffen. Einen Tag später wurden demonstrierende Menschen vor dem Parlamentsgebäude niedergemäht, und so begann die Belagerung der Stadt. Von diesem Tag an glich das Parlament einer Grabstätte. Die Leute flüchten bis heute vor den Granaten. Und die Granaten fallen in einer solchen Dichte, daß es schwerfällt, dies zu beschreiben, ohne daß es nach einer Übertreibung klingt.

Landschaft gescheiterter Erinnerungen

So sind der türkische Friedhof und die darunter befindliche Höhle auch jetzt wieder von Menschen gefüllt. Über die Jahrhunderte ist der Friedhof zu einem Park geworden, in dem nur einige alte weiße Türmchen an die ehemaligen Besitzer erinnern. Dzevgag Ibrifimovic zeigte uns den Weg durch diese unheimliche Landschaft der gescheiterten Erinnerungen. Er trug seine Jagdgewehr über der Schulter und führte uns von einem Stein zum anderen, von einem zerborstenen Baum zum anderen, bis wir schließlich an die ungeordneten Reihen der neuen Gräber traten. Der Gemeindevorsteher und Vorsitzende des Rentnervereins ist zum Wachestehen eingeteilt. „Ich habe für diese Gemeinde Lisca seit 20 Jahren gearbeitet, schreiben Sie bitte, daß ich noch lebe.“ Er erzählte uns, daß die Beisetzungen in Sarajevo sehr schnell durchgeführt werden müssen. „Wissen Sie, was Shehiti sind? Sie sind Kämpfer und unschuldige Opfer, die gestorben sind für eine gerechte Sache. Es ist hier Brauch, die Toten zu waschen, bevor man sie in das Grab legt. Doch die Shehiti nicht, da sie schon in ihrem eigenen Blut gebadet sind. Und Blut ist schwierig wegzuwaschen.“

Vor einem der demolierten Häuser in der Nähe liegen zwei Rosen an der Türschwelle für Mutter und Tochter, die von einer 135-Millimeter-Granate getroffen worden sind, während sie aus Resten eine dürftige Mahlzeit vorbereiteten. Der Teppich war mit Blut durchtränkt und wurde heute morgen entfernt. Selbst der Regen war nicht imstande, die Blutflecken wegzuwaschen. Ich konnte mich nicht überwinden, auf sie zu treten. Jeden Tag sind die Toten vor dem Kosevo-Krankenhaus von Sarajevo aufgestapelt. Die liegen da, einige steif noch, in der Haltung ihres Todes, ihre Körper unbedeckt. Sie liegen sogar hinter der Tür, die die Aufschrift „Administration“ hat. Sie liegen nebeneinander, kein Namensschild ist zu sehen. Es scheint, als hätte eine Naturkatastrophe Sarajevo heimgesucht, und es scheint, als wäre diese in Zeitlupe über die Stadt gekommen.

Vor einigen Tagen saß eine alte Frau auf einer Bank im Park gegenüber vom Präsidentenpalais. Es gab niemand anderen draußen, denn die Granaten fielen mit betäubendem Krach rings um sie herum. Aber sie blieb mit starren Augen sitzen. An diesem Nachmittag sah ich sie vor dem Krankenhaus, irgend jemand mußte sie dahin geführt haben. Sie starrte noch immer geradeaus. Ein alter Mann, der im Regen der Granaten von einer Mülltonne zur anderen auf der Suche nach Brotresten umherirrte, wrang sie zunächst aus, nachdem er einige gefunden hatte. Er fing das Wasser, das aus dem Brot kam, in einem kleinen Plastikbeutel auf. Als sie Vinko Samarlic, einen der Elitekämpfer und Judosportler, der an den Olympischen Spielen in Barcelona für Bosnien-Herzegowina starten sollte, begraben wollten, schlug eine Granate gerade zwei Schritt vor dem offenen Sarg ein. Jeder warf sich auf den Boden. Doch seine Frau stand auf, wischte sich den Staub und den Dreck von ihrem Kleid, und die Begräbnisfeierlichkeiten nahmen ihren normalen Lauf. Oder Aida, die für die Territorialeinheiten arbeitet, packte einen Rucksack für ihr Kind mit einigen Kleidern, mit Saft, mit Keksen, einem Paß und einem Lebensversicherungszertifikat, zwei Familienfotos und einem Brief, in dem geschrieben ist: „Mein Name ist Ivo. Bitte bringe mich zu einer der fünf Adressen.“ Sie wartet darauf, ihn bei einem UNO-Konvoi unterzubringen, und Ivo sagt vor dem Schlafengehen: „Gute Nacht, gute Nacht Mutter, gute Nacht Granate.“

Eine Viertelmillion Menschen stecken in Sarajevo in der Falle. Am Ende des Friedhofs sind acht neue Gräber ausgehoben. „Das wird noch ein langer Krieg“, sagt mir Medina. Sie möchte nach diesem Krieg nicht mehr in Sarajevo leben. Überall liegen zerrissene elektrische Leitungen neben den Autowracks und zerborstenem Glas herum. Es gibt keine Busse und keine Straßenbahnen mehr. All die Moscheen und Kirchen sind demoliert oder zerstört. Alle Gebäude und die Hochhäuser, die einstmals die Skyline der Stadt ausgemacht haben, sind verkrüppelt oder niedergebrannt. Die kleinen Cafés, wo die Leute sich gerne getroffen haben, existieren nicht mehr. Was übrigbleibt sind Lücken und Zwischenräume, worauf man von den umliegenden Hügeln gezielt beschossen werden kann. Vor allem wenn man versucht, zu Ali Paschas Feld am Rande der Stadt zu gelangen, dem einzigen Ort, wo man noch etwas Milch oder eine Zwiebel auftreiben kann. „Man muß sich erinnern, wer seine Nachbarn sind“, erklärt Artije Raguc, Vizepräsident der Liberalen Partei. „Sie haben angefangen mit Kanonen und Maschinengewehren, sogar mit Luftabwehrraketen auf mich zu schießen. Und zwar aus den Häusern, wo ich ein Leben lang entlanggegangen bin.“ Ein Gespräch darüber, wer es hätte sein können, ist ihm jedoch letztlich nicht wichtig, er versucht nach wie vor, an einem Standpunkt des friedlichen und zivilen Zusammenlebens aller in dieser Stadt festzuhalten. Er ist Vorsitzender der Partei seit Rasim Kadic mit seiner Frau und Kind geflüchtet ist. Ich hatte mit ihm mehrmals am Telefon gesprochen, als es noch möglich war, und versucht, ihn zu überreden nach Ljubljana zu kommen. Er wollte das nicht, er hatte Angst, Verräter genannt zu werden. Jedenfalls ist er einer von denjenigen, die alles mögliche versucht haben, den Krieg zu verhindern. So wie Zdravko Grebo, der am Radio 99 ununterbrochen und wütend den Wahnsinn um ihn herum beschreibt, oder Goran Milic, der bei dem Yutel-TV-Sender nicht mehr erklären darf, daß der Krieg sinnlos ist. Solche, die Sarajevo verlassen haben, sind mit Spott überhäuft. Zum Beispiel der Filmregisseur Emir Kusturica (Time of the Gypsies) oder der Sänger Goran Bregovic und der Theaterschauspieler Nele Karajlic, niemand von denen, die geblieben sind, werden sie jemals wieder willkommen heißen. Niemand weiß, wie es weitergehen soll, nicht einmal diejenigen, die den Krieg richtig vorausgesehen haben. Senad Abdic, der Chefredakteur der 'Slobodna Bosna‘ (Freies Bosnien), der schon im vorigen Jahr den Plan der Belagerung Sarajevos beschrieben hatte, irrt jetzt in der Stadt herum auf der Suche nach Papier für seine Zeitung. Der Karikaturist Mithad Ajanovic blieb auch in der Stadt. Nur seine Karikaturen sind nicht mehr witzig. Während meines kurzen Treffens mit dem Präsidenten der Republik, mit Alia Izetbegovic, sagte der mir, er wüßte, wie gut die Flüchtlinge aus Bosnien in Slowenien aufgenommen würden. Zum Schluß fügte er hinzu, dies wird ein sehr langer Krieg werden.

„Ich bin ein Serbe“, sagt einer. Auch auch sie blieben in der Stadt, es sind noch viele Serben hier. Genauso wie Muslimanen, Kroaten, Zigeuner und Juden kämpfen sie für ihre Stadt. „Als wir versuchten, nach Dobrinja durchzukommen, gerieten wir in ein Kreuzfeuer vor verlassenen Häusern. Niemand wußte, wer schoß. Vier von uns starben.“ Jemand neben mir flucht. „Nicht die Serben waren es, ich bin ein Serbe. Das waren Tschetniks.“ Alle Serben, die geblieben sind, werden genau wie die anderen Bewohner der Stadt von den Hügeln bedroht. Colonel Jovo Divjak, der Vizekommandeur der bosnischen Territorialeinheiten in Sarajevo ist auch Serbe. „Ich war 26 Jahre lang Offizier in der Jugoslawischen Volksarmee.“ Zu Beginn des Krieges ist er zur bosnischen Seite übergetreten. „Diese Armee repräsentiert nicht mehr diejenigen, denen ich mich zugehörig fühlte. Diese Armee hat jetzt Kriminellen Waffen in die Hand gegeben. Ich aber will ein ehrenwerter Soldat bleiben.“

„Die UNO-Truppen schweigen wie immer“

Jemand berichtet, daß der Hügel Zuc von den bosnischen Kräften eingenommen sei. Sie hätten mit einem Gegenangriff begonnen. Aber der Angriff ist nicht ganz gelungen, noch nicht, noch ist es nicht der vorausbestimmte Tag. Kurban Bairam ist der zweite Beiram des Jahres. Der Krieg fing mit dem ersten Bairam an, unruhig wird der zweite erwartet. „Die schießen von den Hügeln herunter, die UNO-Truppen schweigen wie immer und warten auf einen Waffenstillstand, der für den Montag angesetzt ist.“ (Gemeint ist der vergangene Montag, die Red.) „Während die Zivilbevölkerung sich allein verteidigen muß, wollen die Profisoldaten einen Waffenstillstand, um der Stadt zu helfen“, beklagt ein anderer. Kurbun Beiram verlangt die Opferung eines Tieres, für die Reinigung seiner Seele. Oben in Vratlik, Sabik, gibt es einen der wenigen, der in diesem Jahr dieser Tradition nachkommen kann. Er dreht das Opfertier, ein Lamm, in Richtung Mekka, und während er betet, durchschneidet er seine Gurgel. Das enthäutete Tier wird ins Krankenhaus geschickt, für die Verwundeten.

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