: Was vom Frieden übrig blieb
Suweida im Süden Syriens war ein Hotspot des kreativen Widerstands. Noch im Juni träumten Aktivist*innen von Kunstausstellungen, Festivals und kollektiver Heilung. Dann starben bei Massakern im Juli über 1.600 Menschen. Was bleibt nach der Gewalt?

Aus Suweida Julia Neumann
Friede für alle Syrer – Freiheit 2024“ steht in großen Buchstaben auf einem Schild an einem Metallgerüst, bemalt in Grün-Weiß-Schwarz mit roten Sternen, den Farben der syrischen Oppositionsflagge. Daneben die weiße Skulptur einer Hand, die das „Victory“-Zeichen formt. Hier, auf dem Sahat al-Karama, Platz der Würde, in Suweida kommen Menschen seit 2011 zusammen, um für Würde, Frieden und Freiheit zu protestieren.
Die Region im Süden Syriens ist bekannt für Kunst und Protest. „Brot, Freiheit und den Sturz des Regimes“ stand in Suweida noch im Jahr 2023 auf Plakaten, als in allen anderen Teilen des Landes die Menschen durch Bombardierung, Gefängnis und Folter verstummen ließen. Nach dem Regimesturz feierten viele hier ihre neu gewonnene Würde. Kreative kamen aus dem Exil zurück, überlegten sich neue Projekte: Kunstausstellungen, Festivals, Weinanbau. Doch stattdessen protestieren dieser Tage wieder Menschen auf dem großen Platz, dessen Name nun wie Hohn klingt. Diesmal gegen eine Blockade von Essen, Benzin und Medizin. Bei Massakern Mitte Juli starben nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) mehr als 1.600 Menschen. Staatliche Truppen exekutierten mindestens 400 Zivilist*innen; lokale Kämpfer und Milizen lieferten sich blutige Gefechte, auch das israelische Militär griff ein. Drusen und Beduinen verübten außergerichtliche Hinrichtungen, so SOHR.
Rückblick auf einen Tag, der sich für Künstler Saad Choeb weit entfernt anfühlt. Anfang Juli ist das Wetter warm, der Himmel blau und Choeb hockt in seinem Atelier. In einer Ecke steht eine Papp-Statue von Ex-Diktator Hafis al-Assad, der Kopf ist abgerissen. Ein Porzellanpferd steckt darin. In einem Korb liegen Papiere, Schilder, Stempel. „Das sind Dinge, die ich nach dem Sturz von Assad bekommen habe. Ich habe einen Stempel der Baath-Partei“, sagt er und lacht: „Jetzt kann ich Zertifikate für gutes Benehmen vergeben.“
Was der Künstler als Spaß an Freunde verteilt, war vor nicht mal einem Jahr noch Zeichen des Überwachungsstaates. Nach dem Fall des Regimes stürmten Menschen die Foltergefängnisse und Büros. Choeb war dabei, als das Lokalbüro der Partei des Ex-Machthabers ausgeräumt wurde. Er selbst hat einen Ordner mit Geheimdienstakten mitgenommen. Er blättert in einem Bericht: ein Steckbrief, den ein Beamter über die überwachte Person geschrieben hat. Über die Haltung zum Regime, die politische Zugehörigkeit und mit Einschätzung des Charakters. „Du spürst die ganze Paranoia, die die Menschen empfunden haben“, so Choeb. Hunderttausende Dissident*innen sind unter dem Assad-Regime verschwunden, etwa eine halbe Million Menschen wurde getötet.
Die Überbleibsel des gestürzten Regimes waren die ersten Objekte, die Choeb in sein Atelier gebracht hatte. Er war 2016 in den Libanon geflohen, 2021 ging er zu seinen Geschwistern in die Emirate, zog dann für ein Masterstudium nach London. Anfang Juni 2025 hat er seine Wohnung dort aufgelöst und ist mit seinem Ersparten zurück nach Syrien gezogen. „Das Gefühl der Vertreibung lastete schwer auf mir. Ich habe meinen Cousin gebeten, mir drei schwarze Steine aus dem Haus meiner Familie zu schicken. Einen Stein habe ich überallhin mitgenommen.“ Choeb zeigt einen Stein aus vulkanischem Basalt, einem typischen Baumaterial in der Gegend. Der Künstler arbeitet an einer Ausstellung zu Erinnerungen und Exil und überlegt, die Steine dafür zu nutzen. Er sitzt im Wohnzimmer, umringt von Wänden aus diesem Gestein, und fühlt sich zu Hause.
Das Gefühl hält nicht lange. Am 12. Juli reist er übers Wochenende nach Damaskus. Was er nicht weiß: Er wird nicht zurückkehren. Denn am 13. Juli greifen sunnitische Beduinen einen Drusen an einem Checkpoint an. Drusische Kämpfer schlagen zurück, daraufhin schickt die Zentralregierung Truppen – offiziell zur Beruhigung, tatsächlich aber an die Seite der Beduinen. Die Gewalt eskaliert: Kämpfer der neuen syrischen Armee ermorden drusische Zivilist*innen, dokumentiert durch Videos, die systematische Demütigungen und Hinrichtungen zeigen. So ist festgehalten, wie Männer vom Balkon springen müssen oder medizinisches Personal im Krankenhaus erschossen wird. Laut Menschenrechtsvertretern wie der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Amnesty International sowie UN-Berichten waren die Täter Angehörige des Militärs und der sogenannten Sicherheitskräfte. Selbst am Platz der Würde, dem Symbol des Protests, haben sie Zivilist*innen exekutiert.
Samawal Jaramany sitzt Anfang Juli bei Saad Choeb auf dem Sofa und erzählt. Der Softwareentwickler ist Mitglied in der Ingenieursgewerkschaft in Suweida. Die ringe darum, ihre Vertretung wählen zu dürfen. In Gewerkschaften oder Handelskammern hat die Übergangsregierung ihr nahestehende Personen auf Führungsposten gesetzt – ohne Wahlen abzuhalten.
Die Gewalt
Am 13. Juli 2025 kam es zu Schusswechseln in der Provinzhauptstadt Suweida sowie in umliegenden Dörfern. Drusische Milizen kontrollierten mehrere Dörfer, Beduinenmilizen führten Gegenangriffe. Am 14. Juli entsandte die syrische Übergangsregierung Truppen, die Partei für die Beduinen ergriffen. Sie verübten Massaker an drusischen Zivilisten. Israel, das sich als Schutzmacht der Drus*innen versteht, griff mehrfach in die Kampfhandlungen ein, um nach eigenen Angaben den Vormarsch regierungstreuer Kräfte zu stoppen. Nach Angaben von Beobachtern der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden mehr als 1.600 Menschen getötet, nach UN-Angaben rund 190.000 Menschen vertrieben. Die Syrischen Streitkräfte sollen mehr als 400 Personen, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, außergerichtlich hingerichtet haben.
Der Bericht
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) hat am Dienstag Beweise dafür vorgelegt, dass die syrische Regierung und regierungsnahe Kräfte für die außergerichtlichen Hinrichtungen von Drus*innen verantwortlich sind. Für ihren Bericht hat es Aussagen von Zeug*innen und Angehörigen dokumentiert und mit 13 Personen in Suweida und zwei im Ausland lebenden Bewohner*innen gesprochen sowie 22 Videos und Fotos überprüft und eine Waffenanalyse gemacht. Verifiziert sind dadurch die vorsätzliche Erschießung und Tötung von 46 Drus*innen, darunter zwei Frauen, und die Scheinhinrichtung von zwei älteren Personen am 15. Juli und 16. Juli.
Die Beweise
AI hat Videos verifiziert, in denen bewaffnete Männer in Uniformen, einige mit offiziellem Logo des Innenministeriums, unbewaffnete Menschen in Häusern, auf einem öffentlichen Platz, in einer Schule und in einem Krankenhaus exekutierten. Mindestens vier bewaffnete Männer in Militäruniformen trugen einen schwarzen Aufnäher mit dem islamischen Glaubensbekenntnis, ein Symbol, das gemeinhin mit der Miliz „Islamischer Staat“ in Verbindung gebracht wird. Drei dieser Kämpfer wurden bei der Zusammenarbeit mit Mitgliedern der syrischen Sicherheitskräfte gefilmt. Zwei Bilder von Mai und Januar 2025, auf denen Mitglieder des syrischen Militärs und der Sicherheitskräfte mit demselben Aufnäher zu sehen sind.
Die Rechtslage
Wenn staatliche Sicherheits- oder Militärkräfte jemanden vorsätzlich und unrechtmäßig töten, handelt es sich um eine außergerichtliche Hinrichtung. Das ist nach internationalem Recht ein Verbrechen. Das gilt auch, wenn verbündete Kräfte dies mit der Komplizenschaft oder Duldung der Regierung tun.
Die Regierung
Das Justizministerium hat am 31. Juli eine Kommission eingerichtet, angeblich um die Massaker in Suweida zu untersuchen und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Einige wurden laut Berichten bereits verhaftet. Menschenrechtsstellen wie AI, die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte oder das zuständige UN-Büro fordern von der syrischen Übergangsregierung die unabhängige und transparente Untersuchung der Taten und einen fairen Prozess (jun)
Kurz darauf kümmert sich Jaramany statt um politische Transformation nun um Verletzte. Als Mitglied des Roten Halbmonds war er 2011 Ersthelfer bei den Massenprotesten. Im August berichtet er am Telefon von einer angsteinflößenden Atmosphäre. „Viele Häuser wurden überfallen, niedergebrannt und Jungen ermordet.“ Er evakuiert Menschen in Not, wie Krebspatienten, die in Damaskus behandelt werden müssen.
Doch für die Krebspatientin und Aktivistin Shahira Fayyad Al-Troudi Azzam gibt es keine Rettung. Sie stirbt am 11. August, weil sie ihre Krebsbehandlung wegen der Kämpfe nicht fortsetzen konnte. Laut SOHR und Anwohnenden blockieren Truppen der Übergangsregierung und verbündete Beduinen die Hauptzufahrtsstraße seit dem 13. Juli. Zwar kommen Hilfskonvois teilweise durch, aber wegen Straßensperren, Unsicherheit und Internetausfällen sei humanitäre Hilfe im großen Stil nicht möglich, so Unicef. Es fehle an Wasser, Strom und Internet.
Seine Arbeit als Softwareentwickler hat Jaramany derzeit auf Eis gelegt. Besonders ärgert ihn das Narrativ der Regierung und syrischer Medien. Die drusischen Kämpfer würden fälschlicherweise als Aggressoren dargestellt. „Die meisten kämpfen um ihr Leben, nachdem sie Gräueltaten und Blockaden erlebt haben. Die Mehrheit von uns sind ganz normale Menschen, die zu ihrem Leben und ihren Familien zurückkehren möchten.“ Die Bevölkerung wolle ein vereintes Syrien aufbauen. „Ein Land, das alle respektiert. Nicht eines, das von Tyrannen regiert wird, die ihr wahres Gesicht verbergen und ihre Handlungen mit Lügen vertuschen.“
Über Starlink kommuniziert auch Adnan Azzam. „Einsatzteams bergen Leichen von den Straßen. Die Stimmung ist bedrückt. Die Gesichter um mich herum sind voller Trauer“, berichtet der 40-Jährige Anfang August per Sprachnachricht. „Schulen und öffentliche Gebäude sind zu Unterkünften für über Tausend Vertriebene geworden, die nach Angriffen und niedergebrannten Häusern geflohen sind. Ich sehe lange Schlangen, Menschen warten stundenlang auf Wasser oder Brot.“ Azzam filmt und dokumentiert das Geschehen. Er ist gelernter Archäologe, Filmemacher und besitzt das Untergrund-Café Haky. Es liegt in einer etwas verlassenen, alten Shopping-Mall, der beige Putz blättert von den Wänden. Innen rot-braune Retrosofas, Drucke von syrischen Künstler*innen an den Wänden, eine Tafel mit Kreide darauf, ein Bücherregal; draußen ein Mix aus Stühlen mit bunten Kissen, eine Holzskulptur, der Blick fällt auf eine Lagerhalle gegenüber.
Cafébesitzer Adnan Azzam, vor den Massakern
Adnan Azzam und sein Bruder William haben das Café vor 10 Jahren eröffnet. Er erzählt die Geschichte bei einer Zigarette auf dem Sofa: „Ich hatte den Armeedienst verweigert. Das war eine Besonderheit hier in Suweida, wir konnten verweigern. Ich wollte hier bleiben, wegen meiner Familie.“ Er hatte als Archäologe gearbeitet, doch mit dem Krieg verließ sein Team die Stadt. „Ich brauchte etwas zu tun. Das Café war meine Bewältigungsstrategie.“ 14 Kriegsjahre lang blieb Azzam, zeigte Indie-Filme, organisierte Konzerte, versorgte Aktivist*innen mit Kaffee, wenn sie Proteste planten. „Ohne diesen Ort hätte ich nicht bleiben können. Es war nicht nur Bewältigung, es war Überlebensstrategie. Wir sind umgeben von hässlichen Dingen, Waffen und Gewalt. Das alles fühlt sich im Haky weit weg an“, sagte er noch Anfang Juli.
„Das Haky hat tatsächlich überlebt, die Brände und Zerstörungen waren weit entfernt“, berichtet Azzam. „Aber ein Großteil der Einrichtung wurde gestohlen.“ Manche Menschen kämen ins Café, um Laptops oder Handys aufzuladen oder Starlink zu nutzen. Die Angst sei nicht verschwunden. „Es herrscht ständige Sorge: Vielleicht könnte etwas Schlimmeres passieren.“
Drusische Aktivist*innen, die vor Kurzem noch von einem vereinten Syrien geträumt haben, sind nun fassungslos. Die Massaker haben konfessionelle Rhetorik und Anschuldigungen geschürt. Die Bewohner*innen Suweidas werden als „israelische Agenten“ bezichtigt. „Die Medien behaupten, es gäbe eine drusische Miliz, die die Agenda Israels verfolgt. Aber das stimmt nicht“, sagt Azzam. „So wie ich die Lage einschätze, gibt es unorganisierte Soldaten aus drusischen Familien, die versuchen, ihre Existenz zu verteidigen. Der Großteil des Widerstands hängt von den Menschen aus Suweida ab, die keiner Miliz angehören.“
Zugleich sei ihm bewusst, dass die israelische Regierung Syrien spalten wolle. „Einige Menschen sehen Israel mittlerweile als einzigen Schutz für sich selbst an. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Ihr Leben ist bedroht, während niemand etwas unternimmt.“ Die Bevölkerung wolle Frieden. „Aber wir wollen auch ohne Angst leben. Wir wollen Würde.“
Die Menschen in Suwaida – Drusen und andere – hätten nie den Separatismus befürwortet, sagt auch Kholoud Huneidy. Die 59-Jährige ist die einzige Psychotherapeutin in Suweida. „Viele haben all ihre Habseligkeiten verloren, sie sind durch die Massaker in die Isolation getrieben worden, wo es für sie nur noch darum geht, zu überleben“, erklärt sie. Nun seien die drusischen Fraktionen und die Regierung in „einer Zwietracht, die nicht überwunden werden kann. Insbesondere, nachdem Beweise die Beteiligung staatlicher Sicherheitskräfte an Morden und Zerstörungen bestätigten.“
Rückblende zum Sommertag im Juli: Huneidy öffnet eine verzierte Eisentür an einem Steinhaus ohne Verputz, neben ihrem Wohnhaus. Innen steht ein Holz-Webstuhl, geknüpfte Teppiche liegen auf einem Stuhl, Stoffreste stapeln sich. Die Psychologin hat 2017 eine Handwerkswerkstatt eröffnet. Frauen knüpfen hier traditionelle Flickenteppiche aus Stoffresten. „2018 kamen viele Vertriebene“, erzählt die Aktivistin. Zunächst half sie, Essen zu verteilen. Dann brauchten die Frauen Teppiche für den Winter.
Samawal Jaramany, Softwareingenieur und Gewerkschafter
Huneidy kam die Idee, die Teppiche selbst zu gestalten. „Viele mussten alleine ihre Familien ernähren, da ihre Ehemänner getötet, inhaftiert oder verschwunden waren. Die meisten hatten vorher nicht gearbeitet.“ Die Teppich-Workshops wurden mehr als nur eine Einkommensquelle. „Es kamen Frauen aus Suweida und Neuankömmlinge aus unterschiedlichen Regionen.“ Der Ort entwickelte sich zu einem Treffpunkt, an dem sich die Teilnehmerinnen kennenlernten, ihre Geschichte erzählten, ihre Sprichwörter, Lieder oder Kunsthandwerk teilten. Jede Frau hatte eine Geschichte: eine autistische Tochter, einen Sohn, der übers Mittelmeer nach Europa geflohen ist, einen gewalttätigen Ehemann. „Der Erfahrungsaustausch war für ihre Heilung von besonderer Bedeutung.“
2018 seien verschleierte Frauen von Bewohnenden fälschlicherweise bezichtigt worden, Extremistinnen des „IS“ zu sein. „Wir bildeten Gruppen zum Schutz der verschleierten Frauen, begleiteten sie nach Hause, gaben ihnen ein Gefühl der Sicherheit.“ Dass sich Frauen aus verschiedenen Landesteilen kennenlernen, sei besonders wichtig bei den steigenden konfessionellen Spannungen nach dem Sturz des Regimes, so Huneidy. Frauengruppen engagierten sich nach dem Regime-Sturz politisch, erzählt Huneidy. Sie selbst ist Teil der „Women’s Awareness and Empowerment Association“. Vor den Massakern half sie, eine Umfrage zu den Bedürfnissen von Frauen zu starten. Sie wollten Programme und Schulungen entwickeln, um das politische Bewusstsein zu schärfen.
Um an der Beteiligung von Frauen in der Politik zu arbeiten, war Huneidy Mitte Juli unterwegs, als die Gewalt begann. Die Straßen waren blockiert und die Psychologin konnte nicht zurück. Sie fuhr nach Damaskus, harrte in einer Wohnung bei ihrem Sohn aus, während ihr Mann im Haus in Suweida war. Nach den Massakern koordiniert sie Hilfsmaßnahmen mit Organisationen, sammelt Spenden. Sie informierte den Zivilschutz über die achtköpfige Familie einer Frau aus dem Teppich-Workshop.
Die Familie schafft es so, Suweida zu verlassen, und auch Huneidy kann nach Hause zurückkehren. „Die Menschen erleben ein kollektives Trauma“, erklärt die Therapeutin „Viele betonen immer wieder, dass sie immer noch nicht begreifen können, was passiert ist und warum. Manche leugnen die Ereignisse und können die Schrecken, die sie miterlebt haben, nicht fassen, als wäre es eine Szene aus einem Horrorfilm.“
Doch die Solidarität untereinander sei bemerkenswert. „Die Menschen säubern die Straßen der Stadt und verteilen Lebensmittel.“ Diese Widerstandskraft halte nicht ewig an, prophezeit die Psychologin. „Irgendwann werden sie Zeit brauchen, um ihre Verluste zu betrauern.“
Der Künstler Saad Choeb ist Mitte August in die libanesische Hauptstadt Beirut ausgereist. Eine lokale Hilfsorganisation konnte seinen Reisepass und Laptop aus Suweida nach Damaskus bringen. Es fällt ihm schwer, das Geschehene zu verarbeiten. „Ich habe immer noch das Gefühl, als wäre die Zeit eingefroren. Ich war gerade angekommen, all meine Sachen sind in meinem Haus in Suweida, und jetzt stecke ich wieder in einer Reiseschleife.“ Eine Rakete ist durch das Dach gebrochen, Fensterscheiben sind zersplittert. Choeb erinnert sich daran, dass Pastellkreiden und die schwarzen Steine für sein Kunstprojekt auf dem Tisch lagen, als er abreiste. „Das wird meine Art sein, das Gefühl von Heimat zu verarbeiten. Es ist definitiv gestört. Ich versuche, die Fluchtgeschichte zu minimieren und die Reise nur als Störung zu betrachten.“
Einer der schwarzen Steine, die sein Heimweh lindern sollten, hatte er in London gelassen, erzählt er. „Das gibt mir ein seltsames Gefühl von Bodenhaftung. Da ist ein Stein, zu dem ich zurückkehren kann. Und ich habe auch ein Haus in Suweida, voller Steine, das definitiv auf mich wartet.“
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