Was ist sozial?: Favelas in Berlin

In Berlin leben zunehmend Menschen unter U-Bahnhaltestellen oder vor Läden. Das führt zu Verwahrlosung des öffentlichen Lebens. Aushalten oder politisch eingreifen?

Ein Camp von Wohnungslosen auf der Oberbaumbrücke in Friedrichshain-Kreuzberg Foto: dpa

Von UDO KNAPP

10.08.21 | Neben dem Eingang zum Rossmann-Drogeriemarkt in Berlin-Kreuzberg, Zossener Straße, leben seit Monaten Leute mit Matratze, Schlafsack, Plastikstuhl und anderem Lebensgut.

Am Marheineke-Platz vor der Passionskirche, direkt neben einem Kinderspielplatz, treffen sich jeden Tag im Zusammenhang mit der Betreuung durch die Evangelische Gemeinde, Wohnungslose, Alkoholiker, Drogisten mit ihren Hunden.

Unter der U Bahn-Haltestelle Görlitzer Bahnhof ist ein kleines Quartier entstanden aus Zelten, Pappbehältnissen und was sonst noch zum Leben gebraucht wird. Hier leben vorwiegend Osteuropäer, Familien mit ihren Kindern.

Risse des Scheiterns

Vor jeder Sparkassenfiliale, vor fast allen Supermärkten gibt es feste Personengruppen, die an ihrem Platz in organisierter Schicht-Besetzung mit dem Kaffeebecher um Unterstützung bitten. Nach Schätzungen der Sozialverwaltung der Stadt sind es zwischen 2.000 und 8.000 Bürger (genaue Zahlen gibt es bisher nicht), die überall in der Stadt unter Brücken, an Kanälen und ungenutzten Brachen leben.

Sie leben unbehaust, weil sie auf der Normschiene des durchgeregelten Stadtlebens gescheitert sind, aus was für Gründen auch immer – oder weil sie freiwillig dieses Leben für sich gewählt haben und auch kein anderes wollen. Es gibt neben dem öffentlichen Ordnungsrecht und vielen sozialen Hilfeangeboten wenig Möglichkeiten, ihnen diese Art zu leben zu verbieten.

Sie schreiben dem Alltag des von der Straßenreinigung bis zum Rettungsdienst sauber organisierten Stadtlebens, einen touch von Verwahrlosung ein, der für manche andere schlecht auszuhalten ist. Das mag eingebildet sein, aber es verunsichert auch tatsächlich. Diese Mit-Berliner machen die Risse eines gewollten oder ungewollten Scheiterns mitten unter uns, mitten in unserem, selbst von Corona größtenteils kaum erschütterten Wohlleben, unübersehbar und sinnlich erfahrbar. Das ist es, was verunsichert.

Sie stören. Sie privatisieren beunruhigend frech und provozierend den öffentlichen Raum, der sonst von denen genutzt wird, die ihn für ihr Alltagsleben mit den Kindern, zum Einkaufen oder Flanieren nutzen und brauchen.

Sie lösen schlechtes Gewissen und peinliches Berührtsein aus.

Aufgabe menschenfreundlich gedachter Sozialpolitik

Sie holen die scheinbar weitentfernte Existenz von Slums und unkontrollierten Favelas an den Rändern der Millionenstädte überall auf der Welt mit allen ihren ungelösten, Gesellschaft destruierenden und negierenden Dramen und den Ungerechtigkeiten einer wilden Urbanisierung mitten in unsere Stadt.

In Diktaturen, welcher Prägung auch immer, wird gegen dieses vermeintlich asoziale Leben mit brutaler Unterdrückung, mit Gewalt und Ausgrenzung vorgegangen. In illiberalen, autoritären Demokratien regieren in diesen ausgegrenzten Lebenszonen an den Rändern der Gesellschaft Rechtlosigkeit, Willkür, Polizeibrutalität und organisierte Kriminalität.

In den westlichen Demokratien sind diese parallelgesellschaftlichen Strukturen und die Menschen, die in ihnen leben, Aufgabe einer grundsätzlich menschenfreundlich gedachten Sozialpolitik mit breit gefächerten, professionalisierten, öffentlichen und gemeinnützigen Hilfeangeboten. Diese Angebote reichen von materieller Hilfe mit Geld und Sachleistungen, Betreuung durch aufsuchende Sozialarbeit, umfassende therapeutische Hilfestellungen bis hin zu kostenloser Unterbringung.

Alle diese Angebote sind von dem Grundsatz ihrer freiwilligen Inanspruchnahme bestimmt. Jeder soll so leben können, wie er selbst es für sich für richtig hält. Freiheit schließt, in dieser Vorstellung, auch die freiwillige Wahl für ein ganz anderes Leben ausdrücklich und mit allen Konsequenzen ein. Die Hilfeangebote werden von den Betroffenen dazu genutzt, ihr freiwillig oder unfreiwillig anderes Leben weiter zu leben, ohne versuchen zu müssen, es zu verändern.

Feste Strukturen statt Übergangsquartiere

Das hat auch einen fatalen Aspekt und der besteht darin, dass dieser hohe finanzielle und solidarische öffentliche Aufwand und die gemeinnützigen Hilfestrukturen als sowieso nie ausreichende Kapitulation der Mehrheitsgesellschaft vor dem Elend und damit als Schwäche wahrgenommen werden kann. Menschliche, solidarische Stärke und die Selbstverpflichtung der Gesamtgesellschaft im Sozialstaat auf die Not der der Anderen zu reagieren, wird zwar gern in Anspruch genommen, aber als schlechtes Gewissen, als Herzlosigkeit und Unterdrückung anderer, individueller Lebensentwürfe delegitimiert.

In Finnland werden aus diesem Dilemma Konsequenzen gezogen. Hilfe gibt es nur bei Bereitschaft zum Mitmachen des gesamtgesellschaftlichen Projekts. Der Staat oder besser die Kommune richtet dauerhafte, subventionierte „safeplaces“ ein. Keine Übergangsquartiere, sondern feste Strukturen für alle, die sie brauchen, warum auch immer. Im Gegenzug unterbindet die Kommune mit ordnungspolitischen Ansagen jeden Missbrauch des öffentlichen Raumes fürs andere Leben unter den Brücken. Jeder bekommt die Chance, als Teil der Gesellschaft und in Würde zu leben, allerdings muss er sich in die Gesellschaft und in ihren Rahmen einfügen.

Der guten Ordnung halber sei an dieser Stelle festgehalten, dass die Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linkspartei) in Berlin an einem ähnlichen Konzept arbeitet. Sie will in der Corona-Zeit pleite gegangene Hostels aufkaufen und dauerhaft als öffentliche Unterkünfte für Wohnungslose wieder von der Stadt selbst betreiben lassen.

Würde das Realität, dann könnten die wilden Schlafplätze überall in der Stadt wieder verschwinden.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig für taz FUTURZWEI. Er lebt in Berlin-Kreuzberg.

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