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■ Was ist in Moskau am 4. Oktober wirklich passiert? – Eine Replik auf Erhard Stölting und Klaus-Helge DonathDie offene Gesellschaft

Demokratie – schreibt Niklas Luhmann – sei semantische Chiffrierung eines paradoxen Sachverhaltes. Diese These fand unerwartet ihre Bestätigung in der taz in widersprüchlichen und entgegengesetzten Einschätzungen der Moskauer Ereignisse.

Erhard Stölting, der auf die Mitverantwortung Jelzins für den Konflikt zwischen Legislative und Exekutive hinweist, ist der Meinung, daß mit der Auflösung des Parlaments und der Beseitigung der Verfassung das demokratische Experiment zu Ende sei. Indem Jelzin sich über das Gesetz gestellt habe, habe er einem demokratischen Staat den Boden unter den Füßen entzogen.

Klaus-Helge Donath sucht dagegen zu beweisen, daß die Vertreibung des kommunistisch gewählten Parlaments, das angeblich keine beachtliche Unterstützung der Bevölkerung genoß, einen Weg für den Aufbau des demokratischen Institutionenwesens öffnet. Dies sei die einzige Möglichkeit, Rußland als eine offene Gesellschaft zu retten. Da in Rußland noch keine Demokratie herrsche und Jelzin „kein Musterdemokrat“ sei, rieche es nach moralischem Rigorismus, von ihm ein konsequentes rechtsstaatliches Verhalten zu verlangen. Im rechtsfreien Raum des posttotalitären Rußland, so das Fazit Donaths, sind alle Mittel zum Zweck zu rechtfertigen. Das Gesetz wird irgendwann, wenn die Situation sich stabilisiert, die Parteien sich herausbilden und der demokratische Prozeß in Gang gesetzt wird, über dem Präsidenten stehen.

Wenn Erhard Stölting die Position eines konsequenten europäischen Demokraten vertritt, die von jenem „moralischen Rigorismus“ gewiß nicht frei ist, der allerdings seinerzeit die Herausbildung der liberalen Rechtsstaaten im Westen erst möglich gemacht hat, läuft Klaus-Helge Donath Gefahr, sich mit der erschrockenen Moskauer Intelligenzija zu überidentifizieren, die Jelzins Blutbad als Selbstrettung wahrnimmt und in ihm einen russischen Pinochet sieht. Dennoch wäre von einem ausländischen Korrespondenten eine gewisse Distanz zu den einheimischen Leidenschaften zu erwarten; fehlende Distanz kann zur tendenziösen Auslese der Information und zu einer leichtsinnigen Interpretation führen. So ist die Vorstellung, die häufig in russischen Zeitungen anzutreffen ist, daß das Parlament die Bevölkerung nicht mehr vertreten habe, kaum zu begründen. Zwar empörten sich viele Fernsehzuschauer über das unzivilisierte Benehmen einiger Deputierter, besonders des Tschetschenen Chasbulatow, und über ihre Korruption. Doch bedeutet die verbale Ablehnung des Parlaments noch lange nicht, daß dieses seine Basis verloren hätte. Im Gegenteil teilen immer mehr Menschen den Ideenkomplex von Ruzkoi/Chasbulatow, weil sie durch ihre soziale Lage dazu getrieben werden. Die nächsten Wahlen könnten bereits zeigen, daß nationalkommunistische Ideen vielen heute westlich orientierten Demokraten nicht so fremd sind, wie sie angeben.

Man muß auch über viele Ungereimtheiten hinwegsehen, um behaupten zu können, daß allein das Parlament die Verantwortung für das Blutbad trägt. Nach den bereits publizierten Expertenanalysen und Zeugenberichten waren es nicht „die couragierten Menschen, die am 4. Oktober eine Lösung erzwangen“, sondern diejenige in der Umgebung Jelzins, die durch die Blockade des Weißen Hauses die dort Eingekesselten gezielt terrorisierten und dadurch zum Ausbruch von Gewalt beitrugen.

Moscow News schreibt in ihrer Ausgabe vom 17. Oktober 93, daß die Miliz und Einsatzkommandos in Moskau völlig ausgereicht hätten, um die Menge der aggressiven Demonstranten aufzulösen; der Sieg der „Rot-Braunen“ auf der Straße sei inszeniert worden, um den militärischen Angriff zu legitimieren. Zu dieser Darstellung paßt auch, daß die „Rot-Braunen“ in den militärischen LKWs, die von den Soldaten angeblich in Panik verlassen wurden, die Zündschlüssel fanden. Das ermöglichte ihnen, sich sofort auf den Weg zum Fernsehzentrum zu machen und es zu stürmen. Dort wurden im Gebäude selbst zwei, in der Menge der Neugierigen draußen vor dem Gebäude hingegen 60 Menschen getötet. Die Zeugen berichten (Neswawissimaja Gaseta, 16. Oktober 93), daß sie aus dem Fernsehzentrum heraus von Granatwerfern beschossen worden seien. Das 1. Programm wurde offenbar nicht eingestellt, weil Ruzkois Kommandos im Gebäude waren, sondern um die verzweifelte Lage von Jelzins Partei über das ganze Land vorzutäuschen. Die Mitarbeiter behaupteten, sie hätten, wenn dies gewollt worden wäre, weiter arbeiten und sogar einen Film über die Situation draußen senden können, doch sei bereits dies streng verboten worden.

Spätere Analysen werden vielleicht zeigen, ob und inwieweit das Blutbad am 4. Oktober tatsächlich eine Inszenierung war. Aber man kann die schon bekannten Fakten nicht einfach ignorieren. Dies ist um so unverantwortlicher, je deutlicher die während des Ausnahmezustandes vollzogenen ethnischen Säuberungen auf die weitere Entwicklung hinweisen. Das Problem der „kaukasischen Mafia“ darf gewiß nicht verharmlost werden. Doch die von einer rassistischen Kampagne in der demokratischen Presse begleitete Abschiebung von Tausenden Kaukasiern öffnet auch in Rußland den Weg, den schon Georgien, Aserbaidschan und Armenien gegangen sind.

Die ethnischen Säuberungen in der Hauptstadt werden als Muster für die Lösung der Konflikte um so einfacher übernommen, je weniger Bereitschaft zu einer zivilen Auseinandersetzung mit den sozialen Problemen in der Gesellschaft vorhanden ist. Die traditionelle Gewalt führt unter diesen Umständen tendenziell zu einer ethnischen Homogenisierung der Regionen, zu Massenmigration und zu einem realen Auseinanderfallen Rußlands.

Der Rechtsruck der russischen Elite ist die Folge ihrer Unfähigkeit, ein Konzept der Staatlichkeit und der Interessen Rußlands auszuarbeiten, von ihrer Durchsetzung ganz zu schweigen. Die nationale Identität ex negativo ist eine gewöhnliche Kompensation für das Versagen der Politik. Wenn man heute beschließt, die Souveränität der Republiken aus dem Projekt der neuen Verfassung zu streichen, überrascht dies nicht mehr. Daher ist es mindestens naiv, wenn nicht unverantwortlich zu behaupten, „Rußland ist in guter Verfassung“. Was für ein paradoxer Sachverhalt: Kaum ein Unterschied zwischen einer „offenen“ und „geschlossenen“ Gesellschaft ist zu merken. Es kommt freilich auf die semantische Chiffrierung an, nämlich darauf, wofür diese Gesellschaft offen ist. Sonja Margolina

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