■ Die Stadt und die Verlierer: Was ist ein Motiv?
Polizeimeldungen, lakonisch und kurz, geben zuweilen Ausblicke auf die verzweifelte Seelenlage von Menschen. Wochenlang, so war kürzlich zu lesen, hatte ein Radfahrer einen einsamen Kampf gegen die verkehrswidrig abgestellten Kraftfahrzeuge geführt. Jedem PKW, der auf dem Radweg parkte, rückte er mit lackzerfressender Säure zu Leibe. Die Polizei, die tagelang auf der Lauer lag, schleppte nicht etwa die Blechkisten ab, sondern den Säure-Attentäter. Ob es einen Zusammenhang mit einem zweiten Vorfall gibt, ist nicht bekannt; es liest sich aber wie eine Fortsetzung: Weil sie ihren „Frust als Radfahrerin auf die Polizei“ abreagieren wollte, hat eine Postbotin zwei Brandanschläge auf eine Polizeidienststelle verübt. Es gebe kein politisches Motiv für die Tat, war dazu vom Staatsschutz zu erfahren. Was ist dann wohl ein politisches Motiv, fragen wir uns etwas ratlos. Die täglichen Erlebnisse jedes beliebigen Radfahrers reichen doch wohl aus. Schließlich erlebt er sich beständig als Opfer einer Verkehrsplanung, die den Vorrang der Automobile zum Dogma erhoben hat. Und auch die dritte Meldung sagt mehr aus über die Schattenseiten der Stadt, über die Verlierer und Opfer, als jede soziologische Studie. Aus Ärger über den Fluglärm hat ein Mann mit einer Dachlatte auf ein abgestelltes Flugzeug eingeschlagen. Tag und Nacht habe ihn in seiner Wohnung nahe der Flugpiste der Lärm eingehüllt und jedes Gespräch unmöglich gemacht – und das vom Flughafen Tempelhof, der seit vielen Jahren doch eigentlich gar nicht mehr in Betrieb sein sollte und nun immer neue Höhenflüge bei der Zahl der Flugbewegungen erlebt. Wer wollte verurteilen, wenn da jemand rot sieht. Wieviel innere Wut hat sich da angesammelt, bis jemand wie einst Kohlhaas mit hilfloser Wut und verbissener Beharrlichkeit gegen ein so empfundenes Unrecht ankämpft. Ist das der Preis der Metropole? Manchen Menschen, die unschuldig unter die Verlierer gefallen sind und kurz vor dem für die anderen unverständlichen Wutausbruch stehen, wird solch ignorante Antwort nur ein Motiv mehr sein. Gerd Nowakowski
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