: Was die anderen denken
Cannes Cannes 6: Bei den Filmfestspielen werfen die Regisseurinnen Lynne Ramsay, Hafsia Herzi und Chie Hayakawa sehr unterschiedliche Blicke auf Nöte des Familienlebens

Von Tim Caspar Boehme
Kinder bekommen ist schwierig. Kinder haben ist schwierig. Und Kind sein ist auch schwierig. Im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes kreisen gleich mehrere Filme um die Institution Familie, die sie aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachten.
Schon zum Auftakt hatte die Regisseurin Mascha Schilinski mit „In die Sonne schauen“ die Töchter mehrerer Generationen einer Familie auf einem Bauernhof in einer vielschichtigen Collage zusammengeführt. Die Schauspielerin und Regisseurin Hafsia Herzi konzentriert sich in ihrer Literaturverfilmung „Die jüngste Tochter“ (La petite dernière) hingegen auf die titelgebende Protagonistin. Fatima, so ihr Name, macht gerade Abitur, ist eine gute Schülerin, aber sehr verschlossen. Sie betet regelmäßig zu Hause im Hidschab, ansonsten läuft sie in Bomberjacke und Baseballcap herum.
Als ein schwuler Klassenkamerad sie vor ihren Freunden als lesbisch bezeichnet, kommt es zur Rangelei mit ihm, Fatima zerbricht demonstrativ seine Brille und beschimpft ihn als „Schwuchtel“. Danach hat sie einen Asthmaanfall, bricht in ihrem Kinderzimmer in Tränen aus. Als nächstes legt sich ein Profil auf einer Datingapp an, über die sie mit Frauen Kontakt aufnimmt.
„Die jüngste Tochter“ nach dem gleichnamigen Roman von Fatima Daas erzählt vom halben Coming-out einer muslimischen jungen Frau, die sich schwertut, ihre Sexualität zu entdecken. Im Freundeskreis wie in ihrer Familie schweigt sie sich dazu aus, und auch als sie Frauen kennenlernt, bleiben einige Hindernisse. Nadia Melliti spielt Fatima mit versteinerter Miene, aus der sie hier und da ein Lächeln herausmeißelt. Von ihrer Figur erfährt man vor allem aus den Reaktionen anderer auf sie, Fatima selbst bleibt dadurch etwas blass. Und da auch der Konflikt mit der Familie bloß angedeutet ist, droht dem Film sein Kraftzentrum immer wieder abhanden zu kommen.
Unser Filmredakteur Tim Caspar Boehme berichtet täglich von den Internationalen Filmfestspielen in Cannes
In Lynne Ramsays „Die, My Love“ wird dafür aus allen Rohren gefeuert. Ein Paar zieht aufs Land, ringsum Wiesen und Felder, kaum Menschen, trotzdem wirkt für die Schriftstellerin Grace (Jennifer Lawrence) alles bedrohlich nah und laut. Sie wird schwanger, nach der Geburt schreit das Kind viel, Grace kann kaum schlafen – und dann schafft ihr Freund Jackson (Robert Pattinson) auch noch einen Hund an, der ständig bellt.
Ramsay inszeniert das mit einer so penetranten wie unheimlichen Tonspur, fast alles um Grace herum ist Bedrohung, rasch wird klar, dass es ihr psychisch nicht gut geht. Das Verhalten von Jackson hilft dabei nicht, er scheint kaum empfänglich für ihre Nöte und wirkt selbst auch nicht ganz zurechnungsfähig. In dieser psychotischen Kleinfamilienhölle lauert ständig Gefahr, Erlösung ist nicht in Sicht. Beim Publikum dafür irgendwann Erschöpfung.
Die japanische Regisseurin Chie Hayakawa schließlich erzählt in „Renoir“ von einer Teenagerin, die sich von ihren Eltern buchstäblich verlassen sieht. Der Vater ist todkrank, die Mutter von der Aufgabe, ihren Beruf und das zerfallende Familienleben zu vereinbaren, überfordert. Ihre Tochter Fuki (Yui Suzuki) muss daher viel Zeit auf sich gestellt verbringen.
Hayakawa erzählt von Einsamkeit zwischen nüchternem und magischem Realismus. Ihre Hauptfigur Fuki beginnt sich immer mehr für Telepathie zu interessieren, probiert alles Mögliche aus, von Kartentricks bis Hypnose. Dabei kreist „Renoir“ um die Frage, wie man zu den Gedanken und damit überhaupt zu anderen eine Verbindung aufbauen kann. Die freundlich-warmen Bilder sind trügerisch, denn Chie Hayakawa flicht in ihr Gesellschaftsporträt im Kleinen nicht nur Themen wie Sterben, sondern auch Kindesmissbrauch mit ein. Ein so zauberhafter wie verstörender Film.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen